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Samstag, 10. Oktober 2015

Endstation Apfelbaum

Da fährt man seit Jahrzehnten gefühlte zwanzig Millionen Mal auf der Hansalinie nur 600 Meter an einem "Lost Paradise" vorbei, ohne auch nur im Ansatz zu ahnen, was sich auf dem unscheinbaren Bauernhof hinter dem dichten Gestrüpp alter Bäumen an automobilen Dramen ereignen... oder ereignet haben. Und eigentlich wäre mir diese Geschichte auch gar nicht passiert. Ich habe meinem Club-Kumpel Peter nämlich nur versprochen, nach einem maroden K 70 zu schauen und das Fahrzeug gegebenenfalls auch zu kaufen. Peter braucht unbedingt den Fahrersitz, denn sein K 70 hat ihm eine dieser fiesen Metallfedern durch Sitzbezug und Hose in den Allerwertesten gebohrt. Außerdem würden sich die schicken Alufelgen des Fundstücks gut an einem seiner K 70 machen. Ein paar Chromstoßstangen, zwei hintere Türen und weitere brauchbare Ersatzteile soll es auch noch dazu geben.

Das berichteten ihm jedenfalls weitere Club-Kumpels, die den Wagen wegen der Jahreshauptversammlung des Clubs und der gewissen räumlicher Nachbarschaft zu dieser Veranstaltung am letzten Wochenende bereits besichtigt hatten. Peter war auch schon bekannt, dass die Karosse dieses Fundstücks nicht mehr rettbar ist - an der geschundene Kreatur lässt sich also allenfalls noch Leichenfledderei betreiben.

Vorsichtshalber telefonierte ich also vorher mit den Besitzern und vereinbarte einen Termin am nächsten Tag.

Wie bereits erwähnt, finde ich nur knapp 600 Meter neben der Autobahn den Hof, auf dem irgendwo das Fahrzeug stehen soll. Eingerahmt von großen, offenen Rinderställen, Treckergaragen und einem rustikalen Wohnhaus parke ich den Wagen im Regen. Hier riecht es nach Landwirtschaft. Ein großer schwarzer Hund steht bellend von innen hinter der gläsernen Haustür, sein Atem lässt immer partiell das Fenster beschlagen. Trotzdem klingele ich. Von oben aus dem Dachfenster ruft eine Frauenstimme "Moment - ich komme!" Gleichzeitig öffnet unten ein Mann in blauer Latzhose "Moin, du kommst wegen dem K 70...?" "Richtig!" "Der steht vorne ums Haus rum auf der Wiese unter den Bäumen - ich komm' da gleich hin!" Also latsche ich durch den norddeutschen Nieselregen, trete dabei in die Pampe, die einen Traktorreifenabdruck darstellt.
Endstation Apfelbaum?
Die Natur holt sich zurück, was der Natur gehört
Vorne auf der Wiese, im Lärm der nahen Autobahn, steht tatsächlich ein K 70 unter einem Apfelbaum. Dessen Äste tragen schwer an den fetten Früchten, die sicherlich bald unheilbringend auf das alaskablau-metallic-farbene Blech abzustürzen drohen. Ich pflück' mir einen - Boskop dürfte die Sorte sein, prima für 'nen Apfelkuchen und das krasse Gegenteil zu einem eleganten Golden Delicious. Nämlich rustikal, derbe, recht sauer und rauh - passt zur Situation und zum Ort. 
Beim Kauen muss ich grinsen - das der Erdanziehung folgende Fallobst hätte dem darunter weilenden einstigen Glanzstück automobiler Ingenieurskunst nur noch wenig anhaben können. Denn kaum eine seiner matten Blechflächen ist nicht bereits mit einer fiesen Macke verziert.
Fallobstziel
Schon fast ein Idyll
Blühende Karosserie
Der Blick entlang des immer kritischen Spritzwasserbereiches längs der Fahrzeugseiten, also dort, wo einstmals ständig beim Fahren Wasser, Salz und Rollsplitt ihr vernichtendes Werk taten, haben sich bei diesem Exemplar wahre Rostbiotope entwickelt bei deren Anblick sich die Pupillen unkontrollierbar weiten. ICH HASSE ROST! Hatte ich das je erwähnt? Und ICH HASSE SALZ auf Straßen! So ein Anblick des vom Salz und somit Rost angegriffenen Autowagens kann echt sehr traurig machen.
Knäckebrotseitenteil
Meine Augen wandern weiter über den unter den Baum Dahingestreckten - ein bisschen sieht es tatsächlich so aus, als ob er sich dort zum Sterben hingelegt hat. Die Luft ist raus! Kein Wunder, aus allen vier Reifen ist das federnde Element des Überdrucks längst verflüchtigt. Teilweise schrumpeln die rissigen Pneus unförmig über die Alufelgen. Die hingegen passen eigentlich gar nicht zum allgemeinen Gesamtzustand des K 70. Ihnen sind weder die lange Zeit noch ein Verfall anzusehen. Endlich ein erster Pluspunkt dieser Begegnung.
Beim Kauen muss ich grinsen - das der Erdanziehung folgende Fallobst hätte dem darunter weilenden einstigen Glanzstück automobiler Ingenieurskunst nur noch wenig anhaben können. Denn kaum eine seiner matten Blechflächen ist nicht bereits mit einer fiesen Macke verziert.
Einsteigen und wohlfühlen?
Das Fahrzeug ist unverschlossen. Ich öffne die hintere rechte Tür. Spinngewebe verringert die Kopffreiheit. Erstaunlicherweise riecht es nicht wirklich muffig. Die Lehnen der Vordersitze sind lammfellbezogen, Kopfstützen sind Fehlanzeige - diese heutige Standardausrüstung gab es damals nur als Extra, der Schaltknauf fehlt, eine seltene Konsole sitzt auf dem Mitteltunnel, es ist die alte Version des Lenkrades verbaut - zusammen mit den Doppelscheinwerfern läßt mich das auf ein 73er Modell tippen. Die versifften Scheiben lassen das alles in einem trüben Licht erscheinen.
... lang ist`s her
Bekanntes Interieur
Als ich die Tür wieder zuklappe, fällt mir ihr noch immer satter Klang auf. Unverkennbar und typisch K 70! Da gibt es keine primitiven Blechschwingungen der Tür, kein metallisches Nachklappern der Innereien, kein ungeschicktes Aufeinanderschlagen von massiven Metallen am Schloß - einfach nur ein trockenes Ineinandergreifen von Schloß und Zapfen, gefolgt von einem rasch verklingenden gesunden Einrasten einer stabilen Metallfeder. Für solch ein extrem sattes Geräusch werden heutzutage Heerscharen von Sounddesignern bemüht - beim K 70 gab es das bereits vor über vierzig Jahren.
Lebloses Herz
Die Motorhaube liegt lose auf ihren Schlössern - da hat wohl schon jemand einen Blick auf den Motor geworfen. Drumherum hat sich bereits der Apfelbaum mit altem Laub, trockenen Blütenblättern und abgestorbenem Geäst und vielleicht auch Trocken(fall)obst verewigt. Der Motor ist da, lädt jedoch wenig zu Berührungen ein. Es scheint hier sogar alles vollständig zu sein. Klappe wieder zu!
... under the appletree
Jeder der einen K 70 kennt, weiß, dass man die Heckklappe nur mit einem Schlüssel öffnen kann. Deshalb bleibt bei diesem Sterbenden die Klappe dicht. Vor der verbauten Anhängerkupplung lehnt ein Rad.
Dieser Wagen hat seine Glanzzeiten längst hinter sich. Ich habe genug gesehen... und mit dem Sterbenden gelitten. Schade!
Nasser Rost an Brennessel
Der Besitzer kommt durch's nasse Unterholz dazu. Tja - was soll er sagen? Eigentlich ist kein Wort nötig - außer "Schietwetter... komm man her - wir trinken erstma 'n Kaffee!" Wir nehmen auf der umbauten Veranda Platz. "Unsere Kinder haben uns ausquartiert... " berichtet seine Frau, "... weil wir Raucher sind!" "Ich hab da kein Problem mit", sage ich und meine damit sowohl das Rauchen als auch das Sitzen im Freien.

Sie wären ja eigentlich aus der Ro80-Ecke. Den K 70 hätte mal irgendwann sein Vater von einer Werkstatt geschenkt bekommen, wahrscheinlich um mit seinen Ro80-Schraubereien nicht auf Kollisionskurs mit der Werkstatt zu kommen. Nun würden sie Platz brauchen und deshalb solle alles, was mit dem K 70 zusammenhänge, weg. Vor gut eineinhalb Jahre sei er deshalb schon dort untern Apfelbaum umgezogen. (Vielleicht auch länger?)

Ro80 hätten sie noch einige... und "komisch, dass die meist länger hielten und nicht so rosteten!" Ich hole tief Luft und äußere jetzt mal überaus mutig (nicht nur gegenüber dem netten Landwirtsehepaar), was eh längst jeder weiß oder zumindest vermutet: "... dass die Dinger nicht so rosteten, war ja  eigentlich logisch. Denn wer mehr in der Werkstatt steht, statt im Verkehr unterwegs zu sein, bleibt ja von Witterungseinflüssen weitestgehendst verschont." Nach diesem Klartext muss ich natürlich damit rechnen, hochkant vom Hof zu fliegen. Genau das Gegenteil passiert jedoch. Nach einem minutenlangen prustenden Lachanfall kommt nur von den beiden Ro 80-Enthusiasten "Jou, stimmt ganz genau! Damit hast du auch vollkommen Recht! Treffender ham wir das noch nie gehört!" Und weil ich grad soviel Zustimmung bekomme, setze ich noch einen drauf: "Der Ro 80 ist eigentlich Schuld daran, dass NSU untergegangen ist. Die Wankel-Experimente haben ein Traditionsunternehmen in den Abgrund gerissen!" Die Beiden überlegen einen winzigen Moment und meinen dann "Genauso ist das leider!" Man muss eben nur den einfachen Leuten mal auf's Maul schauen, dann erfährt man, was wirklich Sache ist!

Apropos Sache: wir einigen uns endlich auf einen Kaufpreis für den blauen Schrotthaufen unterm Apfelbaum, zu dem es nicht mal Fahrzeugpapiere gibt. Wozu auch, auf die Straße kommt der sowieso nicht mehr! Nur mit den dazugehörigen Teilen gibt es momentan ein Problem, weil... "ach komm man mit in unser Museum! Dann erklären wir das!"
Lost Paradise
Sie führen mich quer über den Hof in einen Garagenkomplex. Dieser ist überbaut mit einer neueren, riesigen Halle - quasi ein Haus im Haus. Tor auf... ein weißer Triumph TR7 Roadster unter landwirtschaftlichem Gerödel: "Den gab's mal zu irgendeinem Auto dazu... kannste haben!" Rechts daneben ein roter Ro 80 der allerersten Serie (mit den Zusatzscheinwerfern hinterm Kühlergrill) und quer davor ein beiger DKW Junior.

"Darf ich fotografieren?" frage ich. "Aber keinen genauen Ort nennen" bekomme ich als Auflage. "Nicht, dass hier was weg kommt!" Und so verspreche ich, mich daran zu halten.

An allen Autos muss etwas gemacht werden - rostige Radläufe hier oder beulige Türkanten da. Und alle vegetieren unter einer sagenhaften Staubpatina vor sich hin. Einfach so abgestellt und gut! Ob die je wieder zum Leben erweckt werden?

Der Bauer schließt das Tor. Ich denke gerade noch, dass es das wohl war... öffnet er schon eine neue Tür. "Weiter geht's hier!" Da schlummert ein weißer Ro 80 zwischen Mülltonnen und alten Reifen.

Doch besonders der Blick nach oben ist Hammer! Wie ein Pastor auf seiner Empore schwebt in geschätzten vier Metern ein türkisfarbenes Audi Coupé S auf einem Podest über der Szene. "Komm mal mit nach oben," fordert man mich auf und deutet auf eine metallene Leiter.

Zwischen Rodelschlitten und Unmengen an stahlblechernen Lüftungsschächten stehen zwei VW Käfer und eben das Coupé. "Ganz da hinten vorm Fenster siehst du den Türrahmen von einem K 70 - da stehen die hinteren Türen!" "Stimmt, jetzt erkenn ich's". "Da kommen wir bloß nicht so einfach hin - nach dahin müssen wir uns erst durcharbeiten. Sobald wir K 70-Teile finden, rufen wir dich an und du kannst die Sachen dann abholen!" "Okay, geht klar!" Wir klettern wieder zurück ins Parterre.
... was sich hier so alles ansammelt
Noch NSU
Der Aufkleber erzählt längst vergessene Geschichten
Dusty White
Coupé unterm Dach
Käfer unterm Dach
Dach gedämmt
Heckscheibenwischer waren mal schwer in Mode
Hofwerkstatt
Nebenan geht's durch eine weitere Tür in die riesige unfertige Halle - ein Viertel des Daches fehlt noch. Hier parken mehrere UNIMOG unterschiedlichen Alters, ein Hobby des Sohnes. Hinter einem hohen Rolltor befindet sich eine Werkstatt. Dort steht ein Buggy, noch ein UNIMOG - allerdings in Teilen - und ein weiterer Ro80 in orange. "Den müssen wir wieder zusammensetzen. Wir machen aus zwei Fahrzeugen eins. Der orangefarbene Wagen hatte einen kolossalen Frontschaden, das andere Teil war ausgebrannt - nun bekommt der Orangene den vorderen Teil des Ausgebrannten." Ich kommentiere die Fahrzeuge in dieser Werkstatt mit den Worten "... lange Weile kommt nicht auf!"
Das Wochenende danach:
Peter möchte den blauen K 70 in etwa zwei bis drei Wochen mit einem Autotransporter abholen. Dazu muss er aber wenigstens rollfähig sein. Mit platten Reifen rollt jedoch gar nichts! Also grabe ich vier intakte K 70-Stahlfelgen auf meinem Werkstatt-Dachboden aus und fahre nach (... ach ja - das darf ich ja nicht verraten!). Dort hilft mir der Sohn des Landwirtes mit seinem Radlader, den K 70 anzuheben. Obwohl sich die Aluräder mit allen Kräften am Fahrzeug festhalten, gelingt es, sie mit deftigen Tritten zum Aufgeben zu überreden. Alus runter - Stahlis rauf! Und da der Wagen eh grad hochgehoben ist, ergibt sich auch ein Blick auf sein Bodenblech... zumindest auf das, was davon noch vorhanden ist. Die Erkenntnis, dass dieser K 70 maroder Kernschrott ist, bestätigt sich dabei eindrucksvoll.
Wer baggert so spät noch am Baggerloch... ?
Hoch soll er leben... 
Manchmal muss man sanfte Gewalt anwenden... 
Alus runter - Stahlis rauf
Alle Viere in Stahl
Vorderer Längsträger im Endstadium
Da lehnte ein Rad dran... Mogelpackung
Jetzt nur noch in den Postausgang
Blick auf die Unterwelt - Rostloch im Fahrer-Fußraum
Das Grauen lauert in jeder Ecke
Spritzwasserbereich... was Salz und Wasser so anrichten können
Da wartet er nun
Fertig zum Abholen
Die Ro 80-Fahrer sind den K 70 los
Zu guter Letzt beenden wir Teil 1 dieser "Bergungsaktion" mit einem kollektiven Kaffeetrinken auf der umbauten Veranda...

Nun wartet das blaue Fundstück auf seine letzte Reise in den Westerwald... der Apfelbaum war also doch nicht die Endstation.

1 Kommentar:

  1. Faszinierende Einblicke in die Welt der Sammler und Jäger! Ih liebe solche Scheunen- und Garagenfundstories.

    LG Micky
    www.alltagsklassiker.at

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