Übersetzung - Translation - Traduzione - Översättning - Tłumaczenie - перевод

Sonntag, 19. Januar 2025

À DIEU, PAPA

Fast dreiundsechzigeinhalb Jahre hat es gedauert, bis ich zu diesen Worten fähig bin. Man könnte auch sagen, solange brauchte ich, um treffende Worte zu finden. Allerdings ist in dieser Zeit auch ein enormer Druck entstanden. Ein Druck, der sich nun entlädt wie ein eruptiver Vulkan! Denn dieser Druck war einfach nicht mehr zu ertragen. Die ganze Zeit hat er immer mehr zugenommen - und nun platze ich. Ich, der diesem Druck nach so langer Zeit nicht mehr standhalten kann - auch wenn ich immer tapfer versucht habe, stark zu sein, stark zu bleiben. Doch irgendwann ist diese Kraft einfach erschöpft. Der Kampf gegen den enormen Druck ist vorbei.

Und dann ist es also soweit!

Diesen Moment verdanke ich insbesondere den lieben Menschen, mit denen ich das letzte Silvester feierte. Das waren lediglich drei Personen: meine Frau Olivia, mein Freund Peter und seine Partnerin Marion. Eigentlich hatte ich natürlich nicht vor, zu diesem Ereignis derart in meine Vergangenheit hinabzutauchen - aber es ist eben so gekommen. Möglicherweise spielte auch die Feuerzangenbowle, die wir währenddessen tranken, eine Rolle - Alkohol soll ja bekanntlich die Zunge lösen.

Ganz sicher aber wirkte sich aus, dass ich zu den drei anwesenden Personen natürlich ein sehr vertrauensvolles, besonderes Verhältnis pflege, was dieses Thema überhaupt erst ermöglichte. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht mehr, wie genau wir auf meine Vergangenheit kamen. Plötzlich waren jedoch die Themen und Worte auf dem Tisch, die mich derart berührten und gleichzeitig trafen, dass mir vom einen auf den anderen Moment Tränen in den Augen standen und ich nicht mehr in der Lage war, vernünftig zu sprechen, weil mir ein dicker Kloß im Hals steckte.

Grob umrissen kennen die Anwesenden meine Geschichte. Meine Frau hat leider manchmal unter meiner Vergangenheit zu leiden. Ich habe mich deshalb vor ein paar Jahren bereits therapieren lassen, um meine Geschichte irgendwie verarbeiten zu können. Da diese Geschichte aber seit meiner Geburt auf mich wirkt, ist sie natürlich auch sehr in mir verwachsen. Für diesen Fall wäre es eigentlich praktisch, seine Geschichte einfach wie ein schmutziges Kleidungsstück ablegen oder wechseln zu können. Stattdessen entkommt man den eingefahrenen Pfaden des Lebens aber nur äußerst mühsam. Letztendlich ist die eigene Geschichte nämlich das eigene Leben. Über sehr lange Zeit sind in diesem Leben Eindrücke entstanden, mussten Erlebnisse und Einflüsse verarbeitet werden, haben Entwicklungen stattgefunden, wurden Erziehungsmaßnahmen angewendet. All das zusammen hat das Leben geformt, haben sich eigene Standpunkte und Meinungen gebildet, sind soziale Kompetenzen beeinflusst worden.

Grundsätzlich kämpft sicherlich jeder Menschen mit Unwägbarkeiten seines Lebens. Je nach Verlauf der Vergangenheit wird seine Entwicklung dabei mehr oder weniger stark beeinflusst. Ich blicke da insbesondere auf meine komplette Kindheit und Jugend sowie sogar Zeiten meines Erwachsenenalters zurück. Sie waren stets fest im Griff und Willen meines Vaters, aber niemals durch mich selbst bestimmt. Bis kurz vor seinem Tod - vor nunmehr acht Jahren - bestand er stets auf Einfluss, musste ich mich für Entscheidungen meines eigenen Lebens vor ihm rechtfertigen.

Dieses Mitbestimmungsrecht erkaufte er sich vor über fünfunddreißig Jahren durch eine üppige finanzielle Einlage zum Bau meines Hauses - dieser private Kredit wurde mir damals geschickt schmackhaft gemacht, er ließ sich dazu unbedingt von mir durch ein schriftliches Schuldanerkenntnis eine Rückzahlung unter üblicher Verzinsung zusichern. Aus manipulativen Gründen war es mir damals schlicht nicht möglich, diese Lösung abzulehnen.

Dieser letzte Satz spiegelt dabei sehr treffend mein Verhältnis zu meinem Vater wider. Das Leben wurde durch Geld bestimmt - alles andere war maximal zweitrangig! Und uns Kinder versuchte er in exakt dieselbe Richtung zu trimmen! Schulischer bzw. beruflicher Erfolg sowie unser zukünftig möglichst hohes Einkommen standen auf Platz eins seiner Agenda für den Nachwuchs. "Ich will, dass aus euch was Anständiges wird!" war sein ständiges Credo.

Dementsprechend schlecht erging es jedem, der sich diesem Ziel entgegenstellte. Dabei interessierte ihn wenig, dass bei der Verfolgung seines Ziels eigentlich einige wichtige Variablen zu berücksichtigen waren. Variablen sind nach Definition ein nicht vorherbestimmbarer, von äußeren Umständen abhängender Faktor in einer Überlegung, einer Prognose oder einer Planung. Dass Menschen einen eigen Willen, einen eigenen Plan und eine eigene Ansicht entwickeln (müssen), lag aber nie im Fokus seiner Betrachtungen.

Stattdessen wurde nötigenfalls mit verzweifelter Wut oder Gewalt in seine gewünschte Richtung gebogen, gedrückt, geschlagen... solche Situationen verursachten oft blaue Striemen und ließen Blut und Tränen fließen. Dass dabei kindliche oder jugendliche Seelen Schaden nahmen, verwundert wohl kaum. Das Wort "seelische Grausamkeit" wurde mir dabei jedenfalls in bitterer Realität demonstriert.

Für diese unfassbaren Situationen gab es leider keinerlei Ausgleich. Wärme, Zärtlichkeit, Streicheln, körperliche Nähe... alles in dieser Richtung fand nicht statt. Alles, was das Wort (Eltern)Liebe umfasst, wurde verteufelt! Wollte meine Mutter ihrem Sohn mal einen Kuss aufdrücken, machte sie das grundsätzlich mit einem Schuldgefühl - denn wenn mein Vater das sah, folgte beispielsweise ein: "Bäh, wie unhygienisch!"

Grund für eine Idee

Peter's Partnerin, Marion, zeigte mir bei unserer gemeinsamen Silvesterfeier, dass sie sich anlässlich einer Reha in Bayern mit folgender Maßnahme endgültig mental von ihrem Exmann "Abschied nahm". Sie zeigte mir ein Handyfoto, auf dem ein bemalter Kieselstein zu sehen war. Mit einem Filzstift war dort ein Bild von ihrem Verflossenen aufgemalt. Auf dem Stein waren zudem ein paar Worte des Abschieds zu lesen. Dieser Stein wurde schließlich von ihr im Starnberger See versenkt. Somit hatte sie sich einer Last entledigt, die ihr schon sehr lange auf der Seele lag.

Sie wollte mich mit dem Foto dieser Aktion ermuntern, mich auch mental von meinem Vater zu lösen. Natürlich wird der Einfluss meines Vaters auf mich sicher um einiges länger gewirkt haben, als Marion's Verhältnis zu ihrem Ehepartner dauerte. Dennoch möchte ich diese Möglichkeit nicht unversucht lassen. Mein Starnberger See ist dabei das Internet, mein Stein ist dieser Post in meinem Blog.


Um mich nun zukünftig von jeglicher Aura meines Vaters entledigen zu können, möchte ich hier ein allerletztes Mal persönliche Worte an ihn richten und Ihr Leser dient mir dabei quasi als Augenzeugen und dadurch als tatkräftige Unterstützung (Danke dafür!):

So Papa, nun ist es endgültig Zeit für dich, für immer von mir zu lassen! Geh' du getrost! Ohne mich - ich gehe meinen Weg längst ganz ohne dich! Nimm alles mit, was du hier gelassen hast! Ich brauche nichts davon! Du kannst dir sicher sein, dass ich mein Leben hier lebe - auch ohne deine Ratschläge, Tipps und Auflagen, die mir mein bisheriges Leben eher schwerer gemacht haben.
I' l l   d o   i t   m y   w a y!


Inzwischen kann ich sagen: du hast es in deiner Zeit bei uns leider nie geschafft, ein gutes, väterliches Vorbild für mich zu sein! Du musst einfach akzeptieren, dass ich deshalb niemals werden wollte und will, wie du es warst. Mich trifft immer noch der Schlag, wenn mir jemand sagt "Du bist wie Dein Vater!" Genau das möchte ich nämlich keinesfalls! Dennoch gibt es immer wieder Verhaltensweisen, bei denen dieser Vergleich leider passt - manchmal kann man seine Herkunft eben nicht verleugnen. Das schmerzt mich dann... 
...so, wie damals deine Prügelattacken geschmerzt haben. Ich kann heute noch nicht verstehen, warum du mir diese brutale Grausamkeit mit "aus Liebe zu dir" zu erklären versuchtest.
Wären deine herzlosen, brutalen Prügelexzesse damals bekannt geworden, wäre es vorbei gewesen mit deinem feinen Ruf als treuer, braver Familienvater, den du ja immer gern gemimt hast. Dann wäre das Leben sicher auch für meine Schwestern und mich in einem Heim oder einer Pflegefamilie fortgeführt worden. Es hätte sicher nicht mehr in deiner Hand gelegen, was aus uns geworden wäre.
Ich habe dir zu Lebezeiten in vielen ernsten Gesprächen Möglichkeiten geboten, zumindest über deine fiesen Brutalitäten nachzudenken. Leider zeigtest du dabei jedoch statt Reue stets nur peinliche  oder sogar unverschämte Ausflüchte. 

Da du mich niemals Vaterliebe, Zuneigung oder Zärtlichkeit spüren lassen hast, fühle ich mich heute nach allem nicht in der Lage zu verzeihen. Sicherlich schade - aber für Vergebung ist mein Schmerz viel zu tief verwurzelt.

Mach es gut, wo immer du bist! Winke bitte nach oben! Denn ganz da oben, über dir, schwebt ganz sicher Mama als Engel. Wenn du sie tatsächlich sehen solltest und sie dich hört, grüß' sie bitte unbedingt von mir und sag' ihr, dass sie uns allen sehr fehlt!




OHNE JEGLICHE KOMMENTARFUNKTION, OHNE EIGENEN KOMMENTAR!

Danke Marion, Danke Olivia, Danke Peter!