Bereits im Herbst 1944 wird die schlesische Hauptstadt Breslau auf Befehl Adolf Hitlers zur "Festung" erklärt. Obwohl der Kampf um Berlin längst zu Ende ist, leidet die verbliebene Bevölkerung von Breslau schon seit Wochen unter Zwangsarbeit, Belagerung, Kämpfen und Zerstörungen. Während die Zivilbevölkerung hilflos in der Falle sitzt, wird der Kampf um die Stadt von beiden Seiten erbittert geführt. In Straßenkämpfen werden Häuser zerstört, häufig von deutschen Soldaten gesprengt, um den näher rückenden sowjetischen Divisionen möglichst keine Deckung zu geben.
"Die Russen kommen!" ist zum Schreckensruf unter den Deutschen im Osten geworden. NS-Gauleiter Hanke, der zuvor noch die sofortige Erschießung Aller angeordnet hat, die aus der "Festung"zu fliehen versuchen, setzt sich wenige Stunden vor der Kapitulation der Stadt feige per Leichtflugzeug ab.
Am 15. Februar 1945 schließt sich der Ring der Roten Armee um Breslau. Von diesem Tag an gibt es kein Entrinnen mehr aus der Stadt an der Oder, die noch sechs Jahre zuvor rund 630.000 Einwohner zählte. Der Großteil der Breslauer muss im strengen Winter überstürzt die Stadt verlassen - wegen unzureichender Transportmittel fliehen über 100.000 Menschen zu Fuß.
Doch auch mit der Kapitulation ist keine Erleichterung in Sicht. Krankenhäuser und Kanalisation sind zerstört, Epidemien verbreiten sich angesichts der katastrophalen Verhältnisse. Schätzungen zufolge kommen im Kampf um Breslau insgesamt 170.000 Zivilisten, 6.000 deutsche und 7.000 sowjetische Soldaten ums Leben. Wie auch in anderen deutschen Städten werden zahlreiche Frauen von Sowjetsoldaten vergewaltigt. Rund 70 Prozent der Stadt liegen in Trümmern.
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Eine frierende, traumatisierte Menschenmenge drängt sich vor dem zerbombten Güterbahnhof. Kleine Kinder weinen, die Alten starren mit leeren Augen vor sich hin, Mütter versuchen, die Familie zusammenzuhalten. Die meisten haben lediglich ein kleines Köfferchen mit ihren letzten Habseligkeiten dabei. Männer gibt es wenige unter den Wartenden – die meisten Familien haben ihre Männer, Väter oder Söhne an der Front verloren. Die Zukunft aller hier Versammelten steht vollkommen in den Sternen – es geht ums nackte Überleben. Hauptsache weg von hier.
Als es zu dämmern beginnt, werden am Bahnsteig Waggons bereitgestellt. Es scheinen genau jene Viehtransporter zu sein, die in der Vergangenheit auch durch die Bilder der Judendeportationen bekannt wurden. Zischend schiebt eine riesige, schwarze Dampflok die Waggons am Bahnsteig entlang, bevor sie dort quietschend stehen bleiben.
Hastig werden die großen seitlichen Schiebetüren geöffnet und alsbald strömt die wartende Menge in die düsteren, unbeheizten Laderäume. Dort wird sie von einem modrig muffigen Geruch empfangen.
Außer ein paar Strohballen gibt es keine Ausstattung. Bevor sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, wird die Schiebetür bereits wieder verschlossen. Nur durch die stellenweise marode Holzverkleidung des Waggons fallen noch ein paar spärliche Lichtstrahlen, die es jedoch kaum schaffen, die zufällig zusammengestellte schweigende Reisegruppe dieses Waggons erkennbar zu beleuchten.
Kurz darauf ruckt der Waggon und die schweren Eisenräder beginnen ihr eintöniges Lied aus Rumpeln, Quietschen und Klopfen. Die Kinder greifen unsicher suchend nach der Hand ihrer Mutter. Endlich startet dieser Zug seine Reise in eine ungewisse Zukunft, zu einem unbekannten Ziel.
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Unermüdlich irrt der Zug durch die Nacht, einem offenbar unbestimmten Ziel entgegen. Hin und wieder muss er warten, wird von anderen Zügen überholt oder muss einem entgegenkommenden Zug auf ein anderes Gleis ausweichen. Zwischendurch braucht die Lok frisches Wasser und neue Kohle. Das Stroh der Strohballen ist inzwischen auf dem Boden des Laderaums verteilt. Die meisten Reisenden sind dort vor Erschöpfung eingeschlafen.
Kurz nach Mitternacht passiert der Zug eine düstere, ausgebombte Stadt. In der Morgendämmerung werden in einer anderen Stadt Wasser und Kohle nachgeladen. Knapp zwei Stunden später stoppt der Zug - offenbar auf freier Strecke. Die großen Schiebetüren werden geöffnet – die unterkühlten Fahrgäste klettern heraus.
Nun können sie erkennen, dass dieses der Bahnhof von „Drebber“ ist und ihnen wird klar gemacht, dass Drebber das endgültige Ziel ihrer langen Reise ist – über 800 Kilometer entfernt von der Heimat, über 800 Kilometer westlich von Breslau, nach 800 Kilometern endlich weit genug entfernt vom unmenschlichen Kriegsgrauen der letzten Jahre.
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Direkt nach dem Aussteigen aus dem Zug werden die mittellosen Ankömmlinge Bauernhöfen zwangszugewiesen. Denn die hiesigen Bauern sträuben sichimmer wieder hartnäckig, sich der Fremden anzunehmen. Freundlichkeit und Anstand bleiben oftmals auf der Strecke. Die von ihnen als „Flüchtlinge“ bezeichneten Menschen bekommen alles andere als Gastfreundschaft zu spüren. Und diese Ausgrenzung wird Jahrzehnte später sogar mich noch treffen.
Auch die Kirche versucht den Vertriebenen mit Kleiderspenden, Nahrungsmitteln und den betroffenen Kindern mit Spielzeug zu helfen. Doch der Geistliche der katholischen Kirche vergisst offensichtlich in dieser Situation, was man seinem Stand und seiner Berufung und seinem Stand entsprechend eigentlich hätte erwarten dürfen: ein gewisses Minimum an Menschlichkeit und Anstand.
Denn er muss wohl herausgefunden haben, dass meine Oma als junges Mädchen mal Novizin (frisch in eine Ordensgemeinschaft als Nonne Aufgenommene) in einem katholischen Kloster war. Ein paar Jahre danach heiratete sie jedoch meinen Opa (der leider zwei Jahre vor Kriegsende als Soldat auf der Krim fällt) und bekam mit ihm zwei Kinder – eben meinen Vater und meine Tante. Mein Opa war allerdings evangelisch und auch seine Kinder waren evangelisch getauft worden.
Darin wittert der unverschämte Pope jedoch wohl seine Chance. Er bietet meiner Oma in ihrer doch sehr hilflosen Lebenssituation finanzielle Unterstützung an, wenn sie sich von ihrem evangelischen Mann lossagen und die beiden Kinder als unehelich bezeichnen würde. Dieses unverschämte und hochgradig unseriöse Angebot lehnt meine Oma natürlich ab.
Die unerhörte Frechheit dieses Pastors hat mich aber noch viele Jahre lang sehr beschäftigt. Ich lerne ihn sogar noch persönlich kennen... und verachte ihn. Weil mir noch viele weitere Vorkommnisse in der katholischen Kirche widerstreben, trete ich einige Jahren später aus dieser Kirche aus – und konvertiere später zum evangelischen Glauben.
Meine Oma, meine Tante und mein Vater kommen damals bei einem Bauern in Deckau unter. Oma hält ihre kleine Familie mit einem Bauchladen über Wasser. Dabei fährt sie mit einem Fahrrad von Bauer zu Bauer und verkauft Kolonialwaren. Bezahlt wird nicht ausschließlich mit Geld, sondern oft auch mit Naturalien: sie bekommt auch mal einen Schinken oder Eier – die Kinder werden satt.
So habe ich die Flucht aus Breslau und die Ankunft am Bahnhof von Drebber meiner Oma und ihren beiden Kindern in vielen Details immer wieder erzählt bekommen. Auch habe ich immer wieder gehört, wie unglaublich froh sie waren, der Hölle dieses barbarischen Krieges entkommen zu sein. Und immer wieder habe ich gefühlt, wie sehr sie dennoch an ihrer Heimat gehangen haben, wie tief sie mit ihrer Heimat verbunden waren – der Verlust der Heimat muss sich angefühlt haben, als sei ihnen ein Stück aus ihren Herzen gerissen worden.
Anfang der 50er Jahre beginnt mein Vater eine Maurerlehre beim Bauunternehmen Niemeyer in Diepholz. Später, nach der Lehre, infiziert er sich mit Lungentuberkulose und entkommt dem Tod nur knapp. An eine Weiterführung seiner Arbeit als Maurer ist jedoch aus diesen gesundheitlichen Gründen nicht mehr zu denken – durch ein Fernstudium qualifiziert er sich schließlich für den Zugang an einer Ingenieurschule. So kommt er nach Holzminden ins Weserbergland.
Holzminden/Weser 1971Foto: Margarete Kernke
Dort studiert er an der Staatlichen Ingenieurschule für Bauwesen. Weil er sich in die Tochter des Vermieters seines Studentenzimmers verliebt, komme schließlich ich im September 1961 ins Spiel.
Denn da werde ich im Evangelischen Krankenhaus im Forster Weg am östlichen Ufer der Oberweser geboren. Noch heute bedauere ich zutiefst, dass ich nicht in dieser Stadt der Düfte und Aromen (Sitz bedeutender Duft- und Geschmackstoffindustrie) aufgewachsen bin. Denn noch heute fasziniert mich die liebliche Landschaft, eingerahmt vom immerhin fast 530 Meter hohen Solling und dem knapp 290 Meter hohen Kiekenstein, in weiten Bögen durchschlängelt von der Weser, im Hintergrund bewacht vom 500 Meter hohen Köterberg.
Nachdem mein Vater sein Studium erfolgreich abgeschlossen hat und zunächst für die Bauleitung an einem Lugenheilsanatorium in Clausthal-Zellerfeld im Harz zuständig war, bewirbt er sich als Ingenieur auf eine Stelle beim Landkreis Grafschaft Diepholz. Deshalb ziehen wir zu meiner Oma nach Mariendrebber. Damals bin ich etwa ein oder zwei Jahre alt.
Meine Oma & ich
Meine ersten bewussten Erinnerungen an Drebber habe ich tatsächlich in Schwarzweiß. Keine Ahnung, warum das so ist, aber ich entsinne mich nur in Grauwerten an die unendliche Weite beim Blick in die Ferne, wenige Schritte entfernt vor der Haustür, an alte Fachwerkhäuser beim Spaziergang mit meiner Oma und an eine knarzende Holzbrücke über die Hunte gleich neben der Sparkasse (allerdings habe ich nirgends einen bildlichen Beweis für diese Erinnerung gefunden). Ich mutmaße mal, dass diese Beobachtungen etwa in das Jahr 1964 zurückgehen.
Früher (ca. 1965/67)
Heute (2020)
Wir wohnen also in der Mietwohnung meiner Oma. Das Haus steht noch heute am Dorfrand (s.o.) an einer Straße, die damals keinen Namen hat. Erst in den 70er (oder gar 80er?) Jahren gibt man den Straßen in Drebber Namen. Unser Haus hat damals nur eine Hausnummer – die 36.
Im hinteren, unteren Teil dieses Hauses wohnt die Besitzerin des Hauses, Frau Krömer, eine alte Dame, an deren Aussehen ich mich heute nicht mehr erinnern kann.
Unsere Wohnung befindet sich im seitlichen Teil des Hauses. Hinter der Haustür gibt es einen kleinen Flur mit steinernem Fliesenboden. Direkt links hinter der Haustür ist das Zimmer meiner Oma. Zunächst steht mein Gitterbettchen in ihrem Schlafzimmer. In der hinteren rechten Ecke steht ein Phonoschränkchen mit Intarsien-Schiebetür. Dahinter verbirgt sich ein DUAL-Plattenspieler im oberen Fach und eine kleine, feine Plattensammlung im unteren Fach. Diesen bescheidenen Luxus kaufte mein Vater seiner Mutter wohl von seinem ersten Lohn als Maurer.
Oben auf diesem Schränkchen steht ein Röhrenradio – außer an das „magische Auge“, eine Abstimmanzeigeröhre, die die Stärke eines Sendersignals anzeigt, kann ich mich jedoch an das genaue Aussehen dieses Gerätes nicht erinnern.
Vater und Sohn beim Schuheputzen in der Küche
Im nächsten Raum links wird man auf der rechten Seite von einer typischen „Kochhexe“ empfangen. Das ist ein Küchenofen mit oberer gusseiserner Abdeckplatte und Herdringen sowie integriertem Backofen. Nur mit diesem Herd wird die untere Etage beheizt. Im Raum steht ein sogenanntes Chaiselongue Sofa – davor ein großer Küchentisch. Unterm Fenster in der Ecke findet man ein Eckregal. Auf der anderen Seite hat neben Oma's Küchenschrank auch noch ein Kühlschrank seinen Platz.
Gegenüber der Küchentür hängt im Flur ein großer Spülstein. Nur hier gibt es in dieser Wohnung fließendes (ausschließlich) kaltes Wasser – ich meine, es wird sogar mit einer Schwengelpumpe gefördert. Samstag ist immer Badetag. Dann wird eine große Zinkwanne in die Küche gestellt und mit Wasser, zuvor erhitzt auf der Küchenhexe, gefüllt. Drei Erwachsene und ein Kind müssen sich nacheinander den Inhalt dieser Wanne teilen. Wenn man zur Haustür reinkommt, kann man direkt rechts über eine Treppe in den ersten Stock gelangen.
Dort oben befindet sich unser Wohnzimmer. Links unter der Dachschräge steht ein Klappsofa, davor ein kleines „Nierentischchen“. Das Klappsofa dient meinen Eltern als Bett. Rechts unter der Dachschräge steht unser Fernseher, natürlich ein Schwarzweiß-Gerät (auf dem ich 1969 die Live-Übertragung der ersten Mondlandung erleben darf). Rechts neben der Tür gibt es einen Schreibtisch, ein paar Jahre später steht dann darauf auch ein schwarzes Bakelit-Telefon.
Musikalische Früherziehung MIT Fliege... hinter mir unser erster Fernseher
Gegenüber der Wohnzimmertür befindet sich die Tür zum Dachboden. Dort ist es trotz spärlicher Glühbirnenbeleuchtung immer düster und meistens sehr kalt. Ich vermeide als kleiner Junge, da ohne Begleitung reinzugehen.
Neben dieser Tür steht später mein Bett – im Treppenhausflur.
Wenn man die Treppe wieder herunterkommt, kann man links herum auf die Toilette gelangen.
Draußen gibt es einen großen Hof und einen eingezäunten Garten. Im Sommer halten wir uns dort viel auf.
Es ist also eine minimale Ausstattung – aber grundsätzlich fehlt es an nichts.
Mein Onkel fährt Ford "Badewanne" (P3 bzw. 17M)
Von links: Oma Drebber, Oma Holzminden, Mama, Gabi
Spielen im Garten
Wir wohnen etwa sechs oder sieben Jahre zusammen in Hausnummer 36. Inzwischen wächst unsere Familie, ich bekomme eine Schwester. Meine Eltern kaufen ein Baugrundstück hinter der Kirche. Bald verbringen wir unsere Zeit ausschließlich auf dem Bauplatz. Mein Vater buddelt dort einen Brunnen. Dabei setzt er schwere Betonringe übereinander und untergräbt sie, sodass sie immer tiefer rutschten. Unten sammelt sich Grundwasser, das wir später zum Hausbau und zur Gartenbewässerung nutzen.
Dank seines Berufs als Ingenieur zeichnet und entwirft mein Vater das ganze Gebäude selbst. Doch auch seine Ausbildung als Maurer hilft ihm jetzt. Er errichtet das Haus, Stein auf Stein ohne fremde Hilfe. Ende der 1960er Jahre ziehen wir zunächst oben ein, während sich die untere Etage noch im Rohbau befindet und erst nach und nach vollendet wird.
Erst zwei Jahre später ziehen wir auch unten ein. Mit dabei auch meine zweite kleine Schwester.
Vaters Modell unseres zukünftigen Hauses
Auf dem Bauplatz wird der Brunnen gebuddelt (1966)
Die Kellerplatte ist gegossen
So sieht das Bauwerk Anfang der 70er aus
Natürlich habe ich mich damals an Drebber gewöhnt. Längst ist mir bekannt, was in diesem kleinen Dorf so los ist. In Mariendrebber gibt es EDEKA Gerke, Gemischtwaren Kühnhausen und Textil Kemper und später sogar Fahrschule Grossmann, schräg gegenüber der alten Schule vor der Marienkirche, an der Ecke beim Schützenplatz gibt es die Bäckerei Staak, direkt hinter der Gaststätte Friemann, gleich in unserer alten Nachbarschaft die alte Schmiede Schwarze, an der Landstraße Richtung Aschen die FIAT – Werkstatt Kuhlmann (später Eichler, heute Pawelzik), Schlosserei Schwettmann nahe der Huntebrücke, Friseur Koblowski (im gleichen Gebäude der Gaststätte Halfbrodt), Gaststätte Halfbrodt, Schuster Halfbrodt, Tischlerei Hoffmann schräg gegenüber des Kriegerdenkmals, beim Torfwerk im Moor gibt es auch noch eine Kneipe, zu der wir manchmal eine Radtour zum Eisessen unternehmen.
In Jacobidrebber gibt es die Sparkasse, Gemischtwarenhandel Middendorf (was haben die genau verkauft?), gegenüber: mein erster Zahnarzt Janetzko, Tierarzt Schmidt, Sanitär Koop-Meyer, Tischlerei Wellmann, Versicherungen Zahn, die Postfiliale, Schlachterei Hoppe, Mode Tegler, Fahrzeughaus Martens (Taxi, Fahrräder, Spielwaren), Gemischtwaren Ziefus (später Fahrschule Van Beek), EDEKA Warneking, Bäckerei Gerstenberg, Gasthaus Paulei, Volksbank, Raiffeisen Genossenschaft, Molkerei Drebber, Schuster Witt, Friseursalon Oelstrom, Fahrschule Gnüchwitz, Bäckerei Eickbusch, eine Apotheke (früher), Gasthaus Schröder, Tante Ida (Lengwenus) Gemischtwaren, Schlachterei Lellek (später Diers), Gasthaus Mattfeld (heute Casa Claudio), Renault Kording.
Mein erster Schultag (1968)
Inzwischen bin ich auch in einem Alter, in dem man mit den Dorfbewohnern aktiv Kontakt aufzunehmen in der Lage ist. Viele Einheimische sprechen natürlich Plattdeutsch. Daher dauert es relativ lange, bis ich ihnen folgen kann, denn bei uns zuhause spricht natürlich niemand dieses Dialekt. Die eine Seite meiner Familie hat halt schlesische Wurzeln, die andere kommt aus dem Weserbergland. Jede dieser Regionen hat grundverschiedene Dialekte.
Schon früh fällt mir im Umgang mit den Einheimischen jedoch etwas Entscheidendes auf. Oft bekomme ich mit, wie die Einheimischen teilweise hinter vorgehaltener Hand, von mir als „Flüchtlingskind“ sprechen. Damals weiß ich mit der Welt hinter diesem Wort wenig anzufangen. Erst Jahre später wird mir der tiefere Sinngehalt des Gesagten bewusst.
Irgendwann fällt mir nämlich auf, dass meine Familie eine Sonderstellung in der spärlichen dörflichen Gemeinschaft hat. Obwohl das entscheidende Eintreffen am Bahnhof von Drebber meiner Oma und ihrer Kinder bereits Jahrzehnte zurückliegt, tragen ihnen die Einheimischen diesen Schritt noch immer nach. Besonders die ansässigen Landwirte haben die damaligen Zwangszuweisungen offenbar noch immer nicht verarbeitet.
Zusätzlich trägt leider auch der Job meines Vaters nicht unbedingt zu einer Versöhnung mit den stets argwöhnischen Einheimischen bei. Zeitweise wird er von seinem Arbeitgeber, dem Landkreis, in der Bauaufsichtsbehörde als sogenannter Baupolizist eingesetzt. Dabei hat er als „Mann vom Amt“ Schwarzbauten aufzuspüren. Schwarzbauten sind Gebäude, die ohne behördliche Baugenehmigung errichtet werden. Im landwirtschaftlichen Bereich sind das zumeist Stallungen, Scheunen, Garagen, am Dümmer aber auch gern ganze Wochenendhäuser, die ursprünglich um einen stationär abgestellten Wohnwagen herum plötzlich emporwachsen. Dann hält ein erboster Landwirt meinem Vater auch schon mal eine Forke vor den Kühlergrill seines Dienstwagens oder plötzlich steht ihm solch ein Schlitzohr mit einem Traktor mit gesenkten Frontladerzinken gegenüber. An der Tatsache, dass das illegal erstellte Bauwerk schlechtestenfalls letztendlich doch wieder abgerissen werden muss, ändert der schon fast militante Widerstand des erzürnten Bauherren jedoch wenig.
Unangenehm wird es hauptsächlich dann, wenn es um Bausünden in Drebber oder der näheren Umgebung geht. Ein Beitrag zur friedlichen Völkerverständigung ist die Aufgabe meines Vaters also sicherlich nicht – doch was soll er machen? Es ist halt sein dienstlicher Auftrag. Da er sich später innerhalb der Behörde auf eine Stelle im Kreisrechnungsprüfungamt versetzen lässt, bleibt ihm die weitere Ausführung der baupolizeilichen Maßnahmen erspart. Ich weiß, dass ihn dieser Wechsel damals sehr erleichtert. Allerdings schätze ich auch, dass ihm die Einheimischen wegen der „dienstlichen Herumschnüffelei“ sehr lange sehr nachtragend waren.
Ohne Frage - mein Vater ist ein schwieriger Typ. Doch er verspürt trotz aller eingefahrener Spannungen niemals Ambitionen, sich bei den Einheimischen anzubiedern. Wobei er dazu in Drebber reichlich Gelegenheit hätte. Zum Beispiel über die ganzen Vereine, oder die Freiwillige Feuerwehr. Oder die vielfältigen Stammtische... von alldem hält sich mein Vater fern.
Im Laufe langer Zeit gewöhnt man sich an das Gefühl, irgendwie aussätzig zu sein. Es verschmilzt mit dem Unterbewusstsein, geht sogar irgendwann im Alltag unter. Das ist wohl auch der Tatsache geschuldet, dass man sich selbst keine Mühe mehr mit einer möglichen Versöhnung gibt. Am Ende ist es wie eine Wunde, die langsam verheilt... man sieht sie noch, sie schmerzt aber kaum noch. Ein perfektes Beispiel für „Die Zeit heilt alle Wunden!“ Zum Glück!
Zeit vergeht...
Drebber im Kleinen – Überall im Großen: Duplizität der Ereignisse
Nach diesen jahrzehntelangen Erfahrungen begleiten mich während der seit 2015 anhaltenden aktuellen Flüchtlingskrise seltsame Gedanken.
Tatsächlich dürften nämlich die damaligen (schlesischen) Vertriebenen nach dem 2. Weltkrieg der niedersächsischen Landbevölkerung ebenso fremd erschienen sein, wie beispielsweise die muslimischen Syrer heutzutage so manchem Deutschen. Feindselige und misstrauische Reaktionen gegenüber den Vertriebenen damals und der Flüchtlinge heute zeigen deutlich, dass sich innerhalb von siebzig Jahren grundsätzlich leider wenig geändert hat und der Begriff Rassismus nach wie vor aktuell ist.
Okay - wir haben jetzt das Jahr 2020 und ich möchte unbedingt etwas klarstellen: natürlich liegt es mir fern, pauschal jeden Drebberaner durch den Rassistenkakao zu ziehen.
Inzwischen leben in Drebber wahrscheinlich auch mehr „Zugezogene“ als „Einheimische“. Durch einige Neubaugebiete und Siedlungen ist es im Dorf glücklicherweise zu einer ordentlichen Durchmischung gekommen. Die Dorfgemeinschaft ist durch Zuzug mittlerweile so weit angewachsen, dass ich persönlich den Überblick über die „Drebberaner“ sogar verloren habe.
Die Menschen, über die ich mich hier „kritisch geäußert“ habe, sind inzwischen längst verstorben oder deutlich über 80 Jahre alt. Meine Erzählungen beziehen sich also auf Zeiten, die die heute in Drebber Lebenden wahrscheinlich nicht mal ansatzweise hier erlebt haben dürften.
Es sind eben Erzählungen eines inzwischen auch schon fast 60-Jährigen, der einfach mal aus seiner Vergangenheit erzählen wollte.
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