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Fischland: Relativ nah - und doch so fern
Grafik: Internet
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Früher wußte ich nichtmal, dass es Fischland gibt.
Elke, meine Internetbekanntschaft, die ich einst während des Mp3-Tauschens bei Napster kennenlernte, hatte mir zusammen mit Ehemann Horst vor fast zehn Jahren mal Wustrow gezeigt. Noch früher, zu grauen Ostzeiten, hatte sie auf dieser 500 Meter bis 2 Kilometer schmalen (oder breiten?) Landbrücke, einem sogenannten Isthmus, mit Eltern und Schwester in einem dieser typischen geduckten Häuser des Ortes gelebt. Die Familie war hier wohl sesshaft geworden, weil das Familienoberhaupt als angesehene Lehrkraft an der Seefahrtschule die Satellitennavigation lehrte.
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Fischland aus der Luft - vorn Ostsee, hinten Bodden
Foto: Internet
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Der Name Wustrow soll slawischen Ursprungs sein und bedeutet so viel wie „umflossener Ort“ oder „Ort auf der Insel“. Es gibt noch weitere sieben „Wustrow“, nämlich im Landkreis Mecklenburg Strelitz an der Mecklenburgischen Seenplatte, im Wendland (also sogar Niedersachsen), im Landkreis Prignitz und Landkreis Märkisch-Oderland – beide Brandenburg – sowie in Penzlin, Landkreis Müritz und in Rerik, Landkreis Doberan – beide Mecklenburg-Vorpommern. Schließlich gibt es, nur ca. 75 Kilometer südwestlich vom Fischland entfernt eine Halbinsel gleichen Namens.
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Wustrow aus der Luft (mit Seebrücke)
Foto: Internet
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Weil meine Frau Olivia zwar schon viel von Fischland gehört, aber noch nichts davon gesehen hat und in unserem 2011er Sommerurlaub sich wegen erbärmlich tiefer Temperaturen (16°C) und fiesen Regenschauern bei Sturmböen kein typisches Ostsee-Ferien-Feeling einstellen will, fahren wir nur knapp 40 km nordöstlich von Rostock in dieses gerademal zwei Meter über dem Meeresspiegel liegende Örtchen.
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Wustrow's Hafen, im Hintergrund der Saaler Bodden
"... ich will mehr... Schiffsverkehr..." Herbert Grönemeyer |
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Leider müssen wir uns den sonst verträumten Ort mit Hunderten von anderen Urlaubern teilen – wie die knapp über 1200 Einwohner, die jährlich gegen eine Flut von etwa 40.000 Gästen zurecht kommen müssen – aber so etwas bringt ja Geld in die Kassen der ansonsten ärmlichen Region Ostdeutschlands. Einen Parklplatz bekommen wir jedenfalls nicht so einfach am Hafen des Boddens, wo ein paar Zeesenboote in den Wellen schaukeln – ihre markanten, braunen Segel sind aber zumeist zusammengerafft – bei diesem Sturm schlürfen selbst die hartgesottensten Unternehmungslustigen lieber Pharisäer in den gemütlichen Hafenkneipen, deren Personal allerdings ständig damit beschäftigt ist, Stühle und Tische im Außenbereich nach Regengüssen zu trocknen um die sonnenhungrigen Genießer dann dort zu bedienen.
Ein Sommer, der kein Sommer ist.
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Parkplatz an der Seefahrtschule |
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Endlich finden wir doch einen Platz, an dem wir unser Auto abstellen können. Für ein paar Euro parken wir mit dem Heck in hüfthohen Brennesseln direkt vor dem düsteren Gebäude der ehemaligen Seefahrtschule. Hier hat also Elke's Vater aus Menschen Kapitäne gemacht – hier wurden Kapitäne geboren. Elke's Vater ist im letzten Winter gestorben – er kann uns leider keine Informationen zu diesem Gebäude und dem Schulleben hinter den verfallenen Mauern mehr geben.
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Graue Gemäuer mit Historie, rumreiche Stätte der Navigation |
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Lost Places: dieser Ort mutet ähnlich an, wie viele Plätze, an denen die alte DDR noch zu erkennen ist – mir fällt zum Beispiel das erste deutsche Seebad Heiligendamm mit seinen verfallenen Villen ein. Späht man durch die stumpfen Fenster, glaubt man noch immer Erich's Konterfei an der Wand hängen zu sehen. Welche unsäglichen Geschichten mag man den in der Wustrower Seefahrtschule Studierenden wohl über den Klassenfeind im Westen vermittelt haben? |
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Die Seefahrtschule in ihren Anfängen
Foto: Internet
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Die Geschichte: Der Steuermann Nicolaus Permien gab ab 1813 in Wustrow Winterkurse, um 20 bis 30 junge Leute auf das Steuermannsexamen vorzubereiten. Im November 1846 eröffnete Amtsmann Koppe die "Großherzogliche Navigationsschule zu Wustrow“, die erste staatliche Navigationsschule in Mecklenburg, mit zwei Hauptklassen und einer Vorbereitungsschule. 1916 wurden die deutschen Navigationsschulen in Seefahrtschulen umbenannt. Infolge des Krieges endete 1944 die maritime Ausbildung. Bis dahin haben in Wustrow 2688 Steuermanns- und 1806 Kapitänsschüler ihr Examen bestanden.
1949 konnte die Seefahrtschule Wustrow wieder eröffnet werden. Neue Lehrräume, Trainingsschiffe, Radarsimulations- und Forschungsmöglichkeiten entstanden. Von 1949 bis 1969 absolvierten 3930 künftige Schiffsoffiziere für Nautik, Betriebstechnik und Seefunk die Schule. 1969 gründete die DDR-Regierung mit der „Ingenieurschule für Seefahrt Warnemünde-Wustrow“ die erste universitäre Hochschule für zivile Schiffsoffiziere und Kapitäne im gesamten deutschsprachigen Raum. Die Seefahrtschule erreichte eine weltweit anerkannte Qualität in Lehre und Forschung: Von 1969 bis 1989 legten 4890 Fach- bzw. Hochschulstudenten ihre Prüfung mit Erfolg ab. Die zivile maritime Ausbildung in Wustrow endete mit dem Sommersemester 1992.
Die Auswirkungen des studentischen Lebens allerdings, das den Ort nachhaltig prägte, kann man bis heute spüren. Nicht nur, was die Infrastruktur betrifft. Die Seefahrtschule hat ostdeutschlandweit fähige junge Studenten aquiriert – und nicht selten sind sie geblieben: als Kapitäne, Lotsen, Familienväter, Unternehmensgründer und aktive Bürger des Ortes.
Offensichtlich ging es hinter den Mauern der Seefahrtschule in Wustrow weniger um sozialistische Politik als um Kapitänspatente – irgendwie war das hier eine riesige Fahrschule, oder?
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Die Seefahrtschule Mitte der 1950er
Foto: Internet
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Damals ein Ort der Studenten |
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Ehemalige Seefahrtschule mit Kurs in eine
ungewisse Zukunft |
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Man hat sich übrigens lange um die Zukunft des grauen Gemäuers gestritten – Abreißen oder Nutzung als Hotel standen zur Diskussion. Angeblich soll nun sogar eine Schule, eine Kindertagesstätte, ein Turmcafè, ein Seniorentreff, ein Museum, sogar ein Planetarium und eine Bücherei sowie ein großer Mehrzwecksaal (zum Feiern) in dem riesigen Gebäude Platz finden. Man träumt davon, dass dieses Bauwerk als „Graues Schloß am Meer“ wie Phönix aus der Asche aufsteigt und sehnt sich nach bald wieder wie einst in ihm pulsierendem Leben. Die düsterste Zukunft läge in einem Virtual Museum of Dead Places.
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Uriges Fischland-Haus |
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Doch Wustrow ist nicht nur die alte Seefahrtschule.
Wir gehen auf der Strandstraße direkt auf die Ostsee zu. Mal abgesehen von den eigens für den Tourismus erstellten Gebäuden, fallen mir die urtümlichen Fischland-Häuser mit den lackierten Fensterläden und den schmucken Haustüren auf. Viele dieser Gebäude tragen ein Reetdach.
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Gemütlich |
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Bunt |
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Einladend |
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Neu |
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Willkommen |
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Einladend |
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Herrschaftlich |
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Freundlich |
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"Der Wind hat mir ein Lied erzählt..." Zarah Leander |
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Als wir die kleine Anhöhe der Düne erreichen, trägt uns eine steife Nordwest-Brise die Gischt des Ostseewassers entgegen. Der kalte Wind nimmt uns fast den Atem, das Getöse der gepeitschten Wellen lässt jegliches Gespräch verstummen. Das Baden ist momentan verboten – wir kämen nichtmal darauf. Möwen stehen regelrecht in der Luft über dem Strand, fast in greifbarer Nähe. Etwas links von uns führt die Wustrower Seebrücke gut 200 Meter ins tosende Meer. Trotz dieses unwirtlichen Sturms ist sie und die Aussichtsplattform am Ende gut besucht. Nachdem wir an unzähligen aus dem Wind gedrehten Strandkörben vorbei durch den Sand gestapft sind, betreten auch wir die hölzernen Planken Richtung Meer. Zwischendurch klatschen die dreckig braunen Wellen unter uns derart hart aufeinander, dass wir trotz der bestimmt dreieinhalb Meter hohen Seebrücke nass werden – toller Sommer!
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Wirklich kein Wetter zum Schwimmen |
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Abweisende Aufstellung der Strandkörbe |
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Die Ostsee tobt - es grollt der Sturm |
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Denen macht das Wetter nichts aus |
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Wustrow, 13.00 Uhr, Sturmwind... die Frisur hält (nicht) |
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Zum Foto bitte still halten! Bei DEM Wind?
Leah, Olivia, Elke, Horst auf der Seebrücke |
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Aufgewühltes Wasser... wenig einladend |
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Beinahe hätte man sie am Bauch kraulen können |
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Verträumt |
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Zurück im vom Wind geschützten Ort geht es noch ein bisschen durch die stillen Nebenwege. Sie sind stellenweise weder geteert noch gepflastert – so hat es hier schon vor 50 Jahren ausgesehen.
Holpert da gleich ein starrachsiger Trabant 601 um die Ecke und verbreitet seinen süßlichen Zweitakt-Mief über die gepflegten Hecken? Ein bisschen ist hier die Zeit stehen geblieben... während nur eine Straße weiter ein fetter Mercedes CLS mit verspiegelten Scheiben gullernd an der Ampel auf Weiterfahrt wartet.
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Reetgedeckte Schmuckstücke |
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Verstecktes Kleinod unter Bäumen |
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Damals... Blick in Elke's Vergangenheit |
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In der Osterstraße stehen wir vor dem Häuschen, in dem Elke's Familie damals wohnte. Etwas angebaut soll man haben – ansonsten ist auch hier die Zeit nur unmerklich weitergezogen. Nach hintenraus erkennt man hinter Wiesen und Weiden den Bodden – jenes Gewässer, das halb Süß- und halb Salzwasser – also Brackwasser ist. In dieser Richtung beherrscht Ruhe und der Wind das Land.
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Dem Himmel ein Stückchen näher |
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Am Ende unseres Wustrow-Besuches klettern wir im roten Backsteinturm der Kirche nach oben. Wohl schon zwei- oder drei Mal war ich dort. Man hat eine tolle Sicht rundum.
Nach Norden und Westen sieht man auf die offene Ostsee, bei guter Sicht ist eventuell Warnemünde zu erkennen, nach Osten der Saaler Bodden, nach Süden Ribnitz-Damgarten. Von hier sieht man übrigens auch die in den Wiesen ungewöhnlich hoch aufgestauten Wassermassen.
Einige Kilometer weiter östlich in Stralsund und Greifswald nimmt das Hochwasser laut der besorgten Berichte der Medien bedrohliche Ausmaße an. Der Sommer 2011.
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Wendeltreppe zum Herrn |
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Ich: Fast vom Turm geblasen |
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Übertrieben viel Wasser in den Wiesen - Sommer 2011 |
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Schmucke Reetdächer |
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Der Blick vom Kirchturm über den Bodden
Richtung Ribnitz-Damgarten,
vorn links Wustrow's Hafen
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Auch in die Seitenstraßen lohnt sich ein Blick |
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Grüßt und verabschiedet die Besucher:
Wustrow's Kirchturm
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Als wir Wustrow wieder mit dem Auto Richtung Rostock verlassen, kommt uns eine graue Regenwand über Fischland entgegen. Der Scheibenwischer kommt nur in der höchsten Stufe gegen die herabstürzenden Wassermassen an – Wustrow – umflossener Ort.
Urlaub im Sommer 2011. |
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