Mittwoch, 19. Dezember 2018

Geschichte die das Leben schrieb

... nichtmal bebildert.

Passend zur dunklen Jahreszeit ein düsteres Thema? Das muss zwar nicht zwingend sein - passt aber in diesem Fall wie die Faust aufs Auge.

Es ist bereits Mitte September des wohl wärmsten und sonnigsten Jahres, das ich in meinen bisherigen 57 Jahren je erlebt habe.

Der just morgendämmernde Mittwoch soll eigentlich ein ganz alltäglicher Arbeitstag werden. Ich drehe mich auf die Seite und stopfe mir das Kopfkissen nochmal unter den Kopf. Im dämmrigen Dunkel des Schlafzimmers erkenne ich aus dem Augenwinkel ein verstohlenes, grünes Blinken aus der Richtung meines auf dem Nachttisch liegenden Smartphones. Fast immer kommen nachts irgendwelche Nachrichten oder Infos an. Das ist ganz normal. Mein Handy quittiert diese Hintergrundaktivitäten stets stumm mit diversen Blinksignalen - die aber nicht wirklich stören.
Mit geschlossenen Augen dämmere ich noch ein bisschen in den Morgen. Wie spät ist es eigentlich? Der Blick zur Uhr bringt keine wirkliche Erkenntnis... zu blöde! Denn ohne Brille ist die Zeit einfach nicht auszumachen. Immernoch im Liegen angele ich also nach meiner Brille, klappe ihre Bügel auf und schiebe sie mir ungeschickt auf die Nase. Mit nur einem Finger gelingt es mir, das Handydisplay zu aktivieren und nach der üblichen Einschaltroutine ist nun endlich auch die Uhrzeit sichtbar... kurz nach halb sieben. Da ich das mobile Telefon eh schon in der Hand halte, checke ich auch eben, was genau das Gerät zum Blinken gebracht hat. Jemand hat etwas auf WhatsApp geschrieben: mit der Fingerkuppe des Zeigefingers tippe ich auf den grünen Button der App. In der Übersicht hat mich jemand zu einer Gruppe namens "Abschied Piero" hinzugefügt. Diese Entdeckung trifft mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Eine Millisekunde Gefühlschaos aus Fassungslosigkeit, Panik, Angst und Hilflosigkeit -  wie ein stummer Schrei.

Vor etwas mehr als acht Jahren

lernten wir uns kennen. Damals war ich Ausrichter eines Oldtimer-Treffens. Und der gewichtige Piero und seine Frau Giuditta waren erstmals mit ihrem alten Auto bei einer solchen Veranstaltung zu Gast. Das nette Eifelaner Ehepaar schien zunächst etwas zögerlich, abwartend, genaugenommen schüchtern. Es fand jedoch schnell Zugang zur recht lockeren, offenen und unkomplizierten Gesellschaft der anwesenden Oldtimer-Enthusiasten. Die Beiden fühlten sich zwischen uns Gleichgesinnten sichtlich wohl.

Mir war jedoch zunächst gar nicht bewusst, wie sehr unser Treffen die beiden Neuen begeistert haben muss. Das wurde mir erst klar, als wir im nächsten Jahr wieder aufeinander trafen und Piero mir von seinem Plan erzählte, im dann nächsten Jahr auch ein Treffen auszurichten. Ich bot ihm spontan meine Unterstützung im Falle organisatorischer Probleme an. Das von Piero organisierte dreitägige Treffen fand im Westerwald statt. Sein Programm umfasste einen liebevoll gestalteten, bunten Strauss an Sehenswürdigkeiten und Aktivitäten und fand allgemein großen Anklang.

Nebenbei lernte ich Piero besser kennen. Er ist nur drei Monate jünger als ich. Piero arbeitete damals als Service-Meister in einer VW-Werkstatt ganz in der Nähe - nahm seinen Job sehr ernst und tauchte daher tief in seine Arbeit ein und spürte stetig zunehmenden Druck seitens seiner Geschäftsführung. Durch seine Verantwortlichkeit für die komplette Werkstatt-Crew, den Umgang mit Kundschaft und die Umsetzung der täglichen Werkstattziele rieb er sich offenbar auf. Als idealen Ausgleich für seinen stressigen Arbeitsalltag entdeckte er die Oldtimerei für sich.

Wie sehr ihn dieses Hobby begeistert, zeigte auch die Tatsache, dass er sich in den Vorstand unseres Oldtimerclubs wählen ließ. Zeitgleich trat auch ich mein Amt in diesem Vorstand an... und fand in Piero einen ambitionierten Mitstreiter.

In der Folgezeit telefonierten wir regelmäßig und standen auch über die üblichen sozialen Medien miteinander in Verbindung. So bekam ich mit, dass Piero ein Grundstück in einem Industriegebiet seiner Heimatgemeinde erstand und darauf eine zweihundert Quadratmeter große Stahlblechhalle errichten ließ. Die füllte sich nun langsam mit weiteren Oldtimern, er richtete sich dort eine Werkstatt mit Hebebühne, Werkzeug und Regallager ein - und erfüllte sich somit den größten Traum eines jeden Autoschraubers. Im gleichen Jahr veranstaltete er auch sein zweites Oldtimer-Treffen, dieses Mal in der Eifel - man merkte am Ergebnis, dass ihm die Planung und Durchführung dieser Events eine unbändige Freude und sehr viel Spaß bereitete - und wieder waren alle Teilnehmer begeistert.

Einmal besuchte mich Piero mit seinem Oldtimer, um zusammen mit mir und meinem Oldtimer zu einem in der Szene bekannten Oldtimermarkt an der Nordseeküste zu fahren. Als er in unsere Einfahrt einbog, fiel mir sofort auf, dass an den Reifen seines Fahrzeugs der Luftdruck viel zu niedrig sein musste. Folglich schimpfte ich mit ihm und zwang ihn, mit mir an der nächsten Tankstelle den Reifenluftdruck zu korrigieren. Dort bewahrheiteten sich meine Bedenken - es war wirklich gefährlich wenig. Als wir schließlich nach unserem Ausflug von knapp 300 Kilometern am Abend wieder auf den Hof rollten, gab Piero zu, dass sein Auto nach der Luftdruckkorrektur viel besser auf der Strasse lag und obendrein wohl etwa zwei Liter Sprit weniger verbraucht hatte. Fortan war diese Geschichte unser Running Gag. Wir haben halt einfach einen gemeinsamen Humor.
 
Piero stand mir bei, als ich den Motor eines meiner alten Autos tauschen musste - weil ich blöderweise Diesel statt Benzin getankt hatte... und damit natürlich dessen Katalysator ruinierte. Ich stellte den verzweifelten VW-Mann vor das größte Rätsel seiner Schrauberkarriere, weil der inzwischen ausgetauschte Motor immernoch nicht richtig lief. Sehr peinlich für mich: als ich ihm zeigte, wieviele (bzw. wenige) verschmolzene Katalysatorbestandteile ich zuvor aus dem Auspuff geräumt hatte, mutmaßte er, dass ein Großteil noch darin stecken dürfte. Beim bloßen Durchpusten stellte sich schließlich heraus, dass der Auspuff absolut dicht war - so konnte die Maschine überhaupt nicht laufen. Damit waren wir quitt... Running Gag auf beiden Seiten.

Wieder ein Jahr später setzte ich mich in Piero's Auftrag für die Bergung eines maroden Oldtimers in meiner Nähe ein. Eine Organisation über 350 Kilometer hinweg - Piero kam an einem abgesprochenen Wochenende mit einem geliehenen Fahrzeugtransporter mit Verschiebeplateau und holte das verrottete Fahrzeug zum Ausschlachten in seine Halle.

Inzwischen waren Piero und Giuditta festes Zwischenziel unserer Urlaubsreisen in den oder aus dem Süden. Irgendwie ließ sich immer ein Zwischenstopp bei ihnen einlegen. Bei allen unseren Treffen fanden speziell Piero und ich oft auch Möglichkeiten, sehr ernsthafte und tiefgründige Gespräche zu führen. Daraus erwuchs eine richtige Männerfreundschaft. So erzählte mir Piero von Nahtoderfahrungen, die er während eines medizinischen Eingriffs wegen Herzrythmusstörungen erfahren hatte. Mir wurde bei unseren oftmals nächtlichen Unterhaltungen klar, dass er sich beruflich wohl oftmals ohne Rücksicht auf Verluste über ein vernünftiges Maß hinaus belastete. Das hängt ursächlich auch damit zusammen, dass er einfach schlecht nein sagen mag. Dennoch ist Piero ein grundehrlicher, herzensguter und feinsinniger Mensch. Da natürlich auch ich einiges an eigenen Lebensweisheiten beitragen konnte, stellten wir auch hier viele Gemeinsamkeiten fest.

Mehr als ein Mal bedauerten wir, dass wir so weit auseinander wohnen. Da hilft es nur, sich möglichst häufig zu besuchen. Also verabredeten wir uns, zusammen einen Jahreswechsel zu verleben. Silvester zu viert. Ich selbst bin jahrzehntelang als DJ auf den Silvesterfeiern dieser Welt unterwegs gewesen - ich schätze inzwischen zu solchen Anlässen die ruhige Art. Und damit befinde ich mich in dieser Runde in guter Gesellschaft - niemand erwartet hier den großen Aufriss. So erlebten wir einen sehr gemütlichen Jahreswechsel bei Raclette und Feuerzangenbowle mit Piero und Giuditta.


Alles wird anders

Zu Silvester ein Jahr später drehten wir den Spieß um. Dieses Mal feierten Piero und Giuditta den Jahreswechsel bei uns. Nicht ahnend, dass dieses das letzte Silvester in dieser Zusammensetzung sein würde. Seit einiger Zeit drängte es Piero zu persönlichen Veränderungen - und zwar Veränderungen auf vielen Ebenen. Beruflich hatte er sich zwar schon vor einiger Zeit in gleicher Position bei einem anderen Autohaus neu ausgerichtet. Aber auch dort mussten Umstrukturierungen vollzogen werden. Den auffälligsten Wandel registrierte jedoch zunächst wohl nur seine Körperwaage. Durch bewusstere Ess- und Bewegungsgewohnheiten reduzierte Piero sein Gewicht. Verweigerte seine Waage anfangs noch eine Anzeige, purzelten bald Monat für Monat die Kilos - inzwischen sind es über sechzig Kilo weniger!

Gern hätte er Giuditta auf seine Reise, weg von den Pfunden, mitgenommen. Leider konnte sie aber Piero's Motivation nicht nachvollziehen. Vielmehr reagierte sie verstört auf die Dynamik, mit der Piero's Wandel Fahrt aufnahm. Auch sie hatte in ihrer Ehe durch Kinderlosigkeit und Krankheit eine eher schwierige Vergangenheit. Doch in der letzten Zeit gab sie sich mit ihrem Leben zufrieden. Piero konnte ihr einen gewissen Komfort bieten - was ihr eigentlich vollkommen ausreichte. Doch diese Bewegungslosigkeit sollte nun nicht mehr reichen. Diese aufkommende Dynamik bedrohte ihre sechsundzwanzig Jahre andauernde Ehe.

Deshalb begannen die Beiden eine Paartherapie. Doch schon bald sollten sie an einem Punkt ankommen, an dem Piero bereit war, ehrlich und frei über Fehler und Probleme zu sprechen, während Giuditta es vorzog, einfach nur zu schweigen. Man stellte den Beiden in Aussicht, dass ihnen in dieser verfahrenen Situation vielleicht ein Mediator helfen könnte. Giuditta kam auf die Idee, Freundin Essan, die Mieterin der Parterrewohnung unserer Beiden, um diesen Gefallen zu bitten.

Doch auch Essan konnte die Gespräche nicht effektiv voran bringen. Im Nachhinein entpuppte sich Giuditta's Idee, ausgerechnet Essan als Mediatorin zu engagieren, aus ihrer Sicht als schwerer Fehler. Denn Piero fand plötzlich Gefallen an Essan. Ehrlich wie er nun mal ist, setzte er seine Gattin von dieser und jeder weiteren neuen Situation in Kenntnis. Doch Giuditta konnte oder wollte der gefährlichen Entwicklung nichts entgegensetzen. Gespräche zwischen den Beiden wurden immer karger... und irgendwann kam der "Point of no Return". Piero kündigte Giuditta an, dass er sich von ihr trennen werde. Jetzt, wo alles zu spät war, schien sie die wahren Ausmaße der Situation endlich zu erahnen. Sie zeigte immerhin blinden Aktionismus, Akte der Verzweiflung und Zeichen verletzter Eitelkeit - mit denen sie Piero allerdings nur noch weiter von sich stieß. Piero's Befürchtung für eine in immer weiter in Entfernung rückende Zukunft war, dass Giuditta höchstwahrscheinlich wieder in ihre komfortable Bewegungslosigkeit zurückfallen könnte. Diesen Zustand hatte er lange genug ertragen - dahin wollte er auf keinen Fall zurück.

Piero's Problem klingt logisch. Doch er sieht die Schuld des Scheiterns seiner Ehe ganz klassisch bei sich. Durch ihn ist es dazu gekommen. Aus unseren Telefonaten weiß ich, dass er an diesem Gedanken sehr schwer trägt. Dazu kommt, dass er durch sein Schuldgefühl für Giuditta gefügig für sie wird - und sie spielt diese Macht aus, bittet ihn um Gefälligkeiten im und am immernoch gemeinsamen Haus. Er weiß und merkt vielleicht nicht, in welcher Abhängigkeit er sich immer noch befindet. Eben deshalb empfehle ich ihm immer wieder, dass er und Essan dort schnellstmöglich ausziehen müssen. Doch Essan besitzt drei Hunde und eine Katze - die Suche nach einer neuen Wohnung mit Duldung ihrer Schützlinge ist daher sehr schwierig.

Auch bei unserem letzten Telefonat ging es genau um dieses Thema. Piero berichtete, dass auch Essan mit ihm schimpft, wenn er wieder Giuditta's fordernden Bitten nachgibt. Und er bedankte sich ausdrücklich, dass ich ihm immer wieder den Kopf zurechtzurücken versuche - immer in dem Wissen, dass auch ich schon vor Jahren in der Situation einer brutalen Trennung war und ihn dadurch auf Augenhöhe beraten kann. Ich erzählte ihm auch bereits, dass ich damals in der Zeit meiner Trennung selbst sehr unglückliche, verzweifelte Momente erlebte und mich sogar zeitweise mit dem Gedanken trug, mit meinem Auto an einem Betonpfeiler einer Autobahnbrücke zu zerschmettern. Aber an einen solchen Ausgang wollte Piero nicht im Geringsten denken.


Und trotzdem finde ich nur eine Woche später morgens diese erschreckende WhatsApp-Gruppe auf meinem Smartphone.
                                          
Augenblicklich bin ich hellwach. Ich höre mein Herz schlagen. Was ist da los? Auch die anderen Mitglieder dieser Gruppe scheinen irritiert zu sein. Der dritte Kommentar stammt von Piero selbst: "Es war schön mit euch, ich geh' jetzt". Danach folgen einige fragende, unsichere Kommentare. Aber seit fast einer Stunde schon keine Antwort mehr von Piero.

Ich schreibe Piero direkt an. "Hi Piero, was ist los? Wo bist Du? Komm erstmal zurück - wir müssen reden!" - Sechs Minuten keine Antwort... "Wir haben doch darüber gesprochen, dass die Zeiten wieder besser werden. Glaube mir - es wird wieder hell!"

- 9 Minuten nichts...

"Einfach weg... ist vollkommen sinnlos. Du hast so viel geschafft... und guck Dir mal die Reaktion Deiner ganzen Freunde an: wir wollen Dich nicht verlieren! Wir alle haben Dich sehr gern!" - Drei Minuten später... "Piero, bitte melde Dich bei mir!"

- Zwanzig Minuten später... "Piero, bitte! Es macht mich total krank, dass ich grad nicht mit Dir sprechen kann."

... Nichts! Verdammt!

Irgendwie muss ich doch herausbekommen, was überhaupt vorgefallen ist - ich rufe am besten mal Essan an. Nach kurzem Klingeln geht sie ran. Sie ist sehr verzweifelt und weint. Schluchzend erzählt sie, dass Giuditta gestern wieder Piero zu einer Reparatur im Haus herangezogen hatte. Ihre Vorwürfe, die dabei auf Piero niedergeprasselt sein müssen, haben ihn wieder hart getroffen. Essan warf Piero dann abends an den Kopf, dass sie das nicht mehr mitmache... nicht mehr aushalte. Das muss er wohl falsch verstanden haben. Während sie schlief habe er dann Abschiedsbriefe geschrieben. Die habe sie morgens neben zwei leeren Flaschen Rotwein auf dem Tisch gefunden. Von Piero und seinem Auto keine Spur. Natürlich habe sie die Polizei eingeschaltet - die suche schon.

Wieder schreibe ich Piero: "Hab grad mit Essan telefoniert - okay, Ihr habt Euch gestern Abend gezofft. Aber doch nicht so, dass es nicht weitergehen kann. Sie liebt dich über alles und will dich keinesfalls verlieren. Und sie hat mir von dem Termin am 8.10. bei der Therapeutin erzählt. Lass dir doch bitte von ihr helfen. Du hast doch noch gar nicht alle Chancen genutzt... und willst schon abbiegen von der Autobahn des Lebens? 
Gib deinem Leben die Chance, es noch mal besser zu machen. Da ist noch Potential."

Und zehn Minuten später dann: "Schreib mir, wo du bist. Ich setz mich sofort ins Auto und hol dich ab und fahre dich, wohin du willst!".

Bei WhatsApp ist immer zu erkennen, ob und seit wann der Gesprächspartner online ist und sogar wann er schreibt. Diese Funktion und Anzeige lässt in diesem Moment bei mir sensationelle Hoffnung aufkommen:
Piero schreibt... Sekunden später lese ich seinen Text: "Ich hab mir eine ganze Schachtel Blutdrucktabellen in den Kopf geknallt, noch nicht mal das klappt. Alles, was ich zur Zeit mache - es funktioniert einfach nichts..... Bin in einem tiefen Keller mit einer nicht endenden Treppe".

So erschreckend diese Tatsache auch auf den ersten Augenblick scheint... in dieser Nachricht wird etwas Positives transportiert. Piero lebt... er schreibt... ich habe Kontakt zu ihm! Sofort antworte ich ihm: "Lass dir bitte helfen... wo finde ich dich?" Aber er schreibt nur "Lass' gut sein, ist schon Ok". Natürlich verstehe ich seinen Einwand - aber ich bin immer noch sehr froh ihm überhaupt schreiben zu können. "Nein, ich will Dich behalten! Du bist mein bester Freund... Bitte, gib mir einen Tipp! Ich möchte wieder mit Dir zusammen lachen können!"

Schnell informiere ich Essan vom Kontakt mit Piero, sie gibt diese Neuigkeit direkt an die Polizei weiter. Die Handy-Ortung ergibt einen ungenauen Treffer in einem großen Wald im Nachbarort. Polizisten suchen den Wald ab, ein Hubschrauber steigt auf und sucht aus der Luft. Zehn Minuten später meldet Essan, dass sie weiß, wo Piero ist... und dass sie jetzt genau dahin unterwegs ist.

Damit hat sie mich natürlich auf heiße Kohlen gesetzt. Genau dreizehn Minuten lässt ihre erlösende Meldung auf sich warten: "Wir haben ihn gefunden, es geht ihm gut. Er sitzt jetzt im Krankenwagen und kommt zur Entgiftung ins Krankenhaus." Es ist unglaublich - wie sehr ich mich über diese Neuigkeit freue. Eine enorme innere Anspannung löst sich allerdings erst langsam. Und erst jetzt bemerke ich, dass ich nun seit fast vier Stunden mit meinem Smartphone in der Hand auf dem Bett hocke und eigentlich schweißgebadet bin. Diesen Vormittag werde ich wohl so schnell nicht vergessen.


Bereits einen Tag später schreibt mir Piero per WhatsApp aus dem Krankenhaus, dass seine Aktion des Vortags eine "scheiß Idee" war. Aber er bekräftigt auch, dass er fest entschlossen war, die Kurzschlußreaktion durchzuziehen. Ich erkundige mich nach seinem Gesundheitszustand und erfahre, dass das Krankenhaus seinen Magen nicht mehr auspumpen brauchte, weil die Tabletten bereits "durch" waren. Sie entfalteten also bereits ihre Wirkung im Körper. So hätte man lediglich die Giftstoffe durch die intravenöse Gabe von reichlich Kochsalzlösung einfach ausgespült. Er sei zwar ziemlich müde, aber es gehe ihm gut.

Später erzählt mir Piero, dass die Ärzte nach einem intensiven Check feststellten, dass seine bisherigen Herzrythmusstörungen nicht mehr vorhanden sind. Damit hat der ganze Wahnsinn sogar noch einen positiven Aspekt. Und auch die Bedenken hoher Blutalkoholkonzentration nach den zwei Flaschen Rotwein und der anschließenden Autofahrt in den Wald bestätigten sich nicht, denn es war kaum noch Alkohol im Blut nachweisbar.

Wenige Tage später wird Piero in eine psychiatrische Klinik verlegt. Ich habe nicht damit gerechnet, dass wir weiterhin per WhatsApp in Verbindung stehen könnten. Eher bin ich davon ausgegangen, dass ihm die Benutzung des Handys untersagt würde... aber wir stehen stetig in Kontakt. Er berichtet, dass er momentan total "runterfährt" - womit er natürlich meint, dass er vollkommen entspannt und sehr viel nachdenkt. Seine mitgeteilten Gedanken klingen überaus vernünftig, machen Sinn - nach all dem Stress der letzten Tage scheint es mit meinem Freund wirklich auch seelisch wieder bergauf zu gehen. Selbst für ein paar Späßchen ist er sogar wieder aufgelegt. Ich bin sehr froh ihn so zu erleben.

Allerdings beschwert er sich über seine Umgebung. Das Zimmer sei fürchterlich trist. Das Essen schmecke überhaupt nicht, sei häufig versalzen ("...scheinen einen Großvertrag mit Bad Reichenhall zu haben"). Doch insgesamt werde er sehr demütig, denke sehr viel über sich und sein Leben nach. Eine Wiederholung der erschreckenden Kurzschlussreaktion rückt in immer weitere Ferne. 

Darüber berichtet mir auch Essan bei unseren immer wieder gehaltenen Telefonaten. Sie hatte sehr unter der brenzlichen Situation gelitten und benötigt daher unbedingt etwas seelische Unterstützung, die ich ihr - so gut das per Telefon über die große Entfernung überhaupt möglich ist - gern zu geben bereit bin. Inzwischen klingt auch sie wieder positiv in die Zukunft blickend. Gemeinsam werden die Beiden das Leben meistern.


Back to life

Ein paar Tage später darf er endlich wieder nach Hause. Schnell sind natürlich auch wieder Probleme an der Tagesordnung. Doch Piero ist inzwischen gut gerüstet für die Zukunft. Und er findet in Essan großartige Unterstützung im Alltag. Seine innere Haltung stabilisiert sich zunehmend. Es geht spürbar bergauf. Es macht wirklich Spaß, diese Entwicklung zu verfolgen.


Dieses ist eine Geschichte, die mich tief berührt.


Fast hätte ich einen lieben Menschen verloren. Ich bin sehr froh, dass es ihn noch gibt, dass wir weiterhin miteinander reden, schreiben, lachen können. Über diesen Fall habe ich mir viele tiefgreifende Gedanken gemacht, habe deswegen sogar schlaflose Nächte verbracht. Mir ist bewusst geworden, wie wichtig es ist, dass man Freunde hat, dass man ihnen immer gut zuhören sollte. Mir wurde wieder einmal klar, wie wertvoll das Leben ist - und wie schnell es vorbei sein könnte. Ich habe mir wieder einmal Gedanken darüber gemacht, was im Leben wichtig ist, in welche Zwänge wir uns manchmal pressen lassen. Diese Geschichte hat auch etwas an meiner Seele verändert.

Genau deshalb entschied ich mich auch, sie hier in meinem Blog zu veröffentlichen. Damit die realen Personen jedoch wenigstens ein bisschen geschützt sind, habe ich sowohl ihre Namen als auch die Handlungsorte verändert. Das ist natürlich auch der Grund, warum es in dieser Geschichte keine Fotos gibt. 

Vor kurzem hatte Piero übrigens Geburtstag. Schon vor Wochen hatte ich bereits die Idee, dass dieser Ehrentag ganz besonders begangen werden müsste. Wer dem Tod derart spektakulär von der Schippe gesprungen ist, sollte seinen Geburtstag aussergewöhnlich erleben. Nach Absprache mit Essan (die meine Idee natürlich supergut fand), übernahm ich die Planung für die Geburtstagsfeier. So kontaktierte ich alle Personen, von denen ich aus unserem gemeinsamen Umfeld wusste, dass er sich über ihre Teilnahme an diesem Event sicherlich sehr freuen wird. Ausserdem konnte ich eine seiner Lieblingsgaststätten als Veranstaltungsort für die Feier buchen. Ein paar Doppelzimmer, ein gemütliches Abendessen, eine lange Nacht mit mitternächtlichem Anstossen auf seinen Geburtstag, ein von allen Gästen gemeinsam finanziertes Geschenk... es war eine absolut perfekte Überraschung - Piero war minutenlang sprachlos und absolut gerührt. Doch er hat auf diese Art erfahren, dass er den anwesenden Personen sehr wichtig und überaus wertvoll ist. 

3 Kommentare:

  1. Was für eine Geschichte mit zum Glück gutem Ausgang. Einer meiner besten Schulfreunde ist vor 10 Jahren gestorben :-( ...

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    1. Ja, Christoph - diese Geschichte hat mich sehr nachdenklich gemacht. Nachdenklicher als so manch andere Geschichte. Wenn man sich in solch einem Moment derart mit dem Leben beschäftigen MUSS, dann verändert sich der Blick auf die Dinge. Ähnlich ist es mir ergangen, als ich 1999 mit meiner Bauchpeicheldrüsenentzündung im Krankenhaus lag - damals standen meine Chancen 50 : 50. Kein Geld der Welt hätte dieses Verhältnis verändert.

      Auch damals hatte ich viel Zeit, über mein Leben und meine Zukunft nachzudenken.

      Das Leben ist viel mehr wert, es ist mit Geld nicht zu bezahlen.

      Das sollte Jedem immer bewusst sein. Und Piero hat diese überaus wichtige Erkenntnis glücklicherweise auch erlangt.

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  2. Oh Mann! Zum Glück hat er ja noch diesen "Hilferuf" abgesetzt...

    Ich hatte ja weissgott auch beschissene Zeiten, aber nie im Leben hätte ich an Selbstmord gedacht. Das wäre feige und faul, es ist doch gerade das spannende, den unbillen des Lebens kräftig den Mittelfinger zu zeigen.

    Alles gute allen Beteiligten.

    Gruss, Maik.

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