Übersetzung - Translation - Traduzione - Översättning - Tłumaczenie - перевод

Sonntag, 9. November 2014

9. November 1989 - Das glücklichste Volk der Welt

9. November 1989 - dieses Datum wird mir neben den traumatischen Terroranschlägen auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 als "ausnehmendes Erlebnis" meines Lebens ewig in Erinnerung bleiben.

Nur wenige Tage vor meiner Geburt im Jahre 1961 errichtete ein bösartiges Regime in Berlin eine bis zu vier Meter hohe Mauer und teilte Deutschland mit einem über 1.400 Kilometer langen streng bewachten Grenzzaun. Es folgte die jahrelange Gefangennahme und Misshandlung eines ganzen Volkes. Wir hörten damals in der Schule von den unglaublichsten und gemeinsten Vorgängen im "anderen" Deutschland. Niemand konnte hierzulande verstehen, wie Macht derart scheußlich missbraucht werden konnte und warum die Menschen jenseits des Stacheldrahts unsagbar leiden mussten. Leider konnte die ganze Welt das alles nur hilflos mit ansehen.

Doch irgendwann zog offensichtlich eine höhere Macht glücklicherweise einen Strich unter die Rechnung. Denn nach 28 Jahren lief das Fass endlich über und das gepeinigte Volk begehrte auf. Es selbst brachte schließlich die debile Staatsmacht zu Fall.

Oma und ich im Harz... unweit der Zonengrenze
Lange davor hatte ich mich diesem grauen Kapitel Deutschlands allenfalls als Kind beim Blick auf den Brocken im Harz mal auf knapp fünf Kilometer, beim Durchqueren des schleswig-holsteinischen Lübeck auf knapp sieben Kilometer oder beim Besuch des oberfränkischen Coburg auf etwa 12 Kilometer genähert.

Zu meiner Schande muss ich heute gestehen, dass zudem mein Wissen über die nur in 160 Kilometern Luftlinie von meinem Heimatort gelegene sozialistische Republik von äußerst lückenhafter Natur war - im geografischen Sinne glich der überwiegende Teil der DDR für mich dem berühmten weißen Fleck auf der Landkarte. 

Offenbar hatte sich meine Generation bereits ganz desillusioniert mit dem Zustand eines getrennten Deutschlands abgefunden - und irgendwie war das auch gesellschaftlich unterstützt, vielleicht sogar gewollt und geduldet. Auch diesbezüglich also ohnmächtige Hilflosigkeit, wohin man sah.

Persönlich gab es für mich nicht einen einzigen Bezug zu den östlichen Gebieten Deutschlands. Ein Teil meiner Vorfahren stammt zwar aus noch weiter entfernten südöstlichen Gefilden (Schlesien). Der zweite Weltkrieg ließ sie jedoch alle weit genug gen Westen fliehen und Schutz suchen. Meine Familie verfügte also über keinerlei Verwandschaft in der DDR.

Für mich trat die DDR erstmals etwa 1985 bewusst in Erscheinung. Damals hatte ich gerade ein Mädchen (meine spätere erste Ehefrau) kennen gelernt. Von einem Kollegen ihres Vaters hatte sie Mitte der 1970er Jahre die Adresse eines etwa gleichaltrigen Mädchens in Haldensleben erhalten. Zwischen den Teenagern entwickelte sich zunächst eine Schreibfreundschaft. Später weitete sich dieser Kontakt auch zu einer Freundschaft zwischen den Eltern aus. Schließlich dachte man sogar über einen Besuch nach - wobei natürlich die Frage nach den Besuchern und den Besuchten gleichzeitig gestellt und beantwortet war. Denn den unfreien DDR-Bürgern war eine Reise in den Westen unmöglich.

Aber auch für westdeutsche Besucher war eine Einreise in den Arbeiter- und Bauernstaat nur nach umständlicher Beantragung erlaubt. Ein weiteres Hindernis stellte die Bedingung dar, dass ein Einreiseantrag nur dann von Erfolg gekrönt sein konnte, wenn zwischen den beteiligten Personen ein verwandschaftliches Verhältnis bestand. Genau das gab es aber ja eben nicht. Also ersann man eine List. Der Vater meiner Freundin behauptete im bürokratischen Papierkrieg nämlich einfach, dass der Vater des Mädels in Haldensleben sein endlich wiedergefundener unehelicher Stiefbruder sei.

Diese Behauptung schien den Staatssicherheitsbehörden plausibel, den Beweis für etwas Gegenteiliges konnten sie schwerlich erbringen - und so fuhren die Wessis zu den Ossis. In den folgenden Jahren entwickelte sich eine innige "Familiengeschichte". Das alles passierte allerdings schon einige Zeit, bevor ich die Szene betrat.

Doch nun gehörte auch ich plötzlich zu dieser Familiengeschichte. Infolgedessen wollte meine neue Flamme mich natürlich ihrer (inzwischen verheirateten) Freundin in Haldensleben vorstellen - nach der üblichen Beantragung hatte die StaSi wohl nichts dagegen. Für mich begann die Reise in eine andere Welt. Dafür fuhren wir abends über die Autobahn A2 vorbei an Hannover, Braunschweig und Helmstedt. Dort war es bereits stockdunkel, doch bei der Fahrt durch den Lappwald erhellte sich der Himmel wieder. Minuten später standen wir im gleißenden Licht tausender Flutlichter der Grenzübergangsstelle Marienborn in einer langen Fahrzeugschlange.

Der K70-Club in der 
Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn

In den nächsten Jahren erlebte ich genau diese Grenzübergangs-Situation noch einige Male. Die seltsame Atmosphäre an dieser Stelle war jedes Mal erdrückend - und auch heute, Jahrzehnte nach der Wende, überkommt mich auf der Autobahn an dieser Stelle noch immer jenes beklemmende Gefühl. Vor zwei Jahren besichtigte ich die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn mit unserem K70-Club... bei der Führung erfuhr ich, dass mein ganz persönlicher, beklemmender Eindruck pure Absicht und eine gewollte, weil verängstigende Wirkung des perfiden Systems der DDR war.

Je näher wir bei unserer Reise nun den eigentlichen Grenzposten kamen, desto schweigsamer wurde es im Auto. Bei den Offizieren der Abfertigung (erst bei der Führung vor zwei Jahren wurde mir klar, dass es sich hier um hochrangige, besonders linientreue StaSi-Persönlichkeiten handelte) herrschte schließlich ein eisiger Umgangston. Es war nicht zu erkennen, was hinter der Fassade dieser Menschen vorging - und ich hätte mir nie im Leben vorstellen mögen, was man für solch einen Job für ein Typ sein musste.

Gut zwei Stunden mussten wir den staatlichen Einschüchterungsversuch inklusive Zwangsumtausch (eine Verpflichtung für Besucher der DDR, einen bestimmten Betrag bei der Einreise in Mark der DDR zum offiziellen Kurs [der deutlich über dem Marktkurs lag] umzutauschen. Insgesamt erzielte die DDR-Regierung mit dieser Maßnahme Einnahmen von 4,5 Milliarden DM. Hintergrund war, dass insbesondere bei Tagesbesuchen und bei Verwandtenbesuchen aufgrund der Mangelwirtschaft der DDR keine Möglichkeit bestand, die zwangsweise umgetauschten Beträge auszugeben - was für ein kranker Schei**!) über uns ergehen lassen - dann befuhr ich erstmalig das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik.

Bereits an der ersten Abfahrt verließen wir die Autobahn und durchquerten die nächtliche Magdeburger Börde Richtung Haldensleben. Im Dunklen machte die Gegend einen heruntergekommenen, ärmlichen Eindruck. Für westliche Begriffe war der Zustand der schmalen Straßen katastrophal - meistenteils aus grobem, unebenem und zerfahrenen Kopfsteinflaster. Die wenig vorhandene Straßenbeleuchtung erinnerte von ihrer Helligkeit eher an mittelalterliche Funzeln, welche die sie beleuchtende Verkehrssituationen in müdes, tristes Licht tauchten. Besonders fiel jedoch der überall in der Luft hängende Geruch der Holz-, Kohle- und Ölheizungen auf. Und Trabis, Ladas, Skodas, Moskvitchs - der automobile Osten halt.

Keine halbe Stunde später standen wir vor einem alten Haus hinter dem Bahnhof von Haldensleben. Wir wurden von unseren Gastgebern sehr herzlich empfangen. Bis weit nach Mitternacht quatschten wir - mein erster erfreulicher Kontakt mit Menschen der DDR.

Nachdem es am nächsten Morgen ein leckeres Frühstück gab, erblickte ich die mich umgebende sozialistische Welt bei Tageslicht. Welch unglaublich krasser Unterschied zu daheim! Von Fotos und Filmen war mir bekannt, dass es genau so auch bei uns vor fünfzig Jahren ausgesehen hat. Gelangweilt nahmen die Augen nur Grau- und Brauntöne wahr. Die Fernsicht endete im Dunst der Heizungen. Häuser und Fassaden waren übersät von Rissen und großflächigen Beschädigungen und wiesen reichlich Abnutzungs- und Verbrauchsspuren auf.

Die ganze Welt des Sozialismus im Einheitsbrei - unfassbar deprimierend und lieblos. Dieses Volk wurde vom total verpeilten Staat verdonnert, in einer alternativlosen Tristesse auszuharren. Wieder ein Baustein mehr in der großen Sammlung der verwerflichen Zumutungen. Das den Sozialismus glorifizierende Propagandagefasel der DDR-Führung wird zu einer der geistlosesten Platitüden des Jahrhunderts, wenn man diese Missstände gesehen hat.

Bei einer silbernen Hochzeit in der DDR

Mein Bild der "Ostzone" festigte sich während einiger weiterer Besuche in Haldensleben. Dabei lernte ich unter vielem Anderen auch das Studio eines Fotografen näher kennen (dessen Equipment wahrscheinlich bei "uns" schon vor 50 Jahren als veraltet galt), war Gast bei einer silbernen Hochzeit mit Discjockey (zur Vermeidung staatsfeindlicher Anglizismen durfte der "staatlich geprüfte Schallplattenunterhalter" sich nach einjähriger Ausbildung "Diskotheker" oder "Disko-Moderator" nennen und musste regelmäßig an Weiterbildungsveranstaltungen, sogenannten Monatskonsultationen, teilnehmen. Alle zwei Jahre erfolgte eine Neueinstufung durch die Einstufungskommission. Durch eine sogenannte 60/40-Regelung wurde der Schallplattenunterhalter verpflichtet, 60 Prozent der Programmfolge mit Musikproduktionen aus der DDR und dem sozialistischen Ausland zu gestalten. Der Profi auf "unserer" silbernen Hochzeit bestritt den ganzen Abend mit zwei Cassettendecks und tausenden Cassetten! Noch heute: RESPEKT!).

Trabi-Scheinwerfer - die ganze Nacht
Als am Abend des 9. November 1989 in den Medien gemeldet wurde, dass die DDR-Grenze gefallen war, erhielten wir einen Telefonanruf. Total aufgeregt teilten die Haldenslebener uns mit, dass sie sich unverzüglich auf den Weg zu uns machen wollten. Also fuhr ich als City - äh, nein, als Country-Guide (... zum einfacheren Finden des Ziels, schließlich gab es in der DDR keine Straßenkarten des feindlichen Westens zu kaufen) mit unserem VW-Bulli zur A2-Autobahnabfahrt Hannover/Herrenhausen. Von dort hatte ich nämlich einen prima Blick auf die in dieser Nacht nicht enden wollende von Osten heranströmende Fahrzeugkarawane. Hier mussten unsere Neuankömmlinge die A2 dann auch verlassen, hier wartete ich nun Stunde um Stunde in der Kälte dieser klaren historischen Novembernacht.

Woher sollte ich jedoch wissen, dass sich unser Besuch 150 Kilometer weiter östlich - einer alten DDR-Tradition folgend - hinten angestellt hatte. Weil sie nämlich an ihrer Auffahrt wegen der in dieser legendären Nacht verständlichen Überfüllung nicht auf die Autobahn kamen, sind sie tatsächlich auf der natürlich total freien Gegenrichtung dem Grenzstau bis zum Ende 20 Kilometer entgegen gefahren und haben sich hinter Magdeburg artig hinten angestellt. Mitteilen konnten sie mir dieses logischerweise nicht, denn Handys gab es 1989 leider noch nicht. Irgendwann in den frühen Morgenstunden war ich schließlich komplett durchgefroren und trat etwas frustriert den Heimweg an. Eine Stunde später zog ich mir zuhause die Bettdecke über den Kopf.

Zwei Stunden später riss mich das Klingeln an der Haustür aus dem Reich der Träume. Ein hellblauer Trabant parkte vor dem Haus. Doch obwohl wir unsere Freunde herzlich aufnahmen, war es ihr letzter Besuch dieser Art.

Plötzlich ein blauer Trabant

Stein des Anstoßes war nämlich unser zufällig auf dem Wohnzimmerfußboden stehender defekter Farbfernseher: auf Nachfrage erfuhren die Besucher von mir, dass das Gerät repariert werden sollte. Ich konnte beim besten Willen nicht ahnen, dass unsere Gäste - neben dem durch unsere Hilfe im Umkreis reichlich abgegrasten Begrüßungsgeld - auch diesen Fernseher geschenkt bekommen wollten. Dieses Missverständnis gab der Freundschaft nach einem fetten Streit den Todesstoß - was aber meines Erachtens total unverhältnismäßig war.
Meine nächste Erfahrung mit Menschen aus dem "neuen" Teil Deutschlands machte ich erst 11 Jahre nach der Wende. Ich lernte per Internet ein Lehrerehepaar aus Wismar kennen. Dabei bewies ich zunächst mal wieder meine schlechten Geografie-Kenntnisse, lernte wenig später jedoch die wirklich schöne Gegend um die Hansestadt an der Ostsee schätzen. Das Ehepaar zählt übrigens inzwischen zu unseren besten Freunden.

Nur vier Jahre später zerbrach meine erste Ehe. In der Folge lernte ich - ebenfalls durch das Internet - eine junge Frau in Leipzig kennen. In meinem Verständnis für deutsche Geografie lag Leipzig hinter dem Harz - was vom Blick meines Heimatortes aus gesehen sogar durchaus zutreffend ist. Für die Leipzigerin hatte meine Ortsbestimmung eher belustigenden Charakter... sie konnte allerdings mit der Wahrheit hinter dem Vorurteil, dass sich Ostfrauen sexuell von Westfrauen unterscheiden, überzeugen.

Inzwischen musste ich nicht ganz schmerzfrei lernen und erkennen, dass manche Ost-Zeitgenossen auch heute noch mit Vorsicht zu genießen sind. Wobei für mich - als unbedarftem Wessi - natürlich schwer erkennbar ist, ob mein Gegenüber zu den einstmals klammheimlichen Beobachtern und Informanten gehörte, oder aber erst später dazu geworden ist - sei's drum: Petzen mochte ich noch nie! Und deshalb gehört Verrätern jede Chance auf Einfluss entzogen!

Heute wäre Deutschland ohne die fünf Bundesländer der ehemaligen DDR nicht mehr denkbar. Ihren Menschen muss man durchaus eine eigene Art zugestehen - so, wie auch die Völker der anderen Bundesländer besondere Eigenheiten entwickelt haben. Und: selbst ich habe inzwischen die unterschiedlichsten Gegenden im Osten Deutschlands besucht und festgestellt, dass es auch dort viele sehenswerte Orte gibt.

Schön, dass die Geschichte Deutschland damals wieder vereint hat!

6 Kommentare:

  1. Anonym22.11.14

    Hallo El,

    das hast du prima geschrieben. Für mich ist die "DDR" nur etwas, was ich aus Erzählungen und Geschichtsbüchern kenne. Ich bin ja erst danach geboren. Neulich habe ich aber mal ein Video geschaut, was meine Eltern gedreht haben, als sie 1990 nach Rügen fuhren, um Freunde und Verwandte von uns dort zu besuchen. Damals waren Trabbis noch anscheinend normal, auf dem Video sieht man noch viele.
    N Trabbi würde ich aber gern mal fahren. Nur mal, um zu wissen, wie sich das anfühlt.

    Schöne Grüße
    Lars

    AntwortenLöschen
  2. Hi Lars,

    als ich mal in einem Trabi mitgefahren bin, war das für mich das leiseste Auto der Welt: ich konnte mir nämlich quasi mit den Knieen die Ohren zuhalten - Du kannst Dir sicher vorstellen, welche Haltung ein Zweimeterundfünf-Riese in so einer Scheese einnehmen muss.

    Na ja, und die Straßenlage der Plastekiste war - diesen Vergleich habe ich ja bereits mehrfach für andere Dinge in meinem Beitrag benutzt - eben das Fahrverhalten eines Fahrzeugs, das vor 50 Jahren als up-to-date bezeichnet werden konnte. Stell Dir einfach vor, Du fährst mit einem Mini-Cooper nur auf den Felgen, ohne Reifen. Ich war damals auch mit einem VW T3 (siehe "Der Bulli-Typ, Teil 2") in der DDR - dieser Bulli lag im Gegensatz zum Trabi auf der Strasse wie ein Rennauto... und war dazu wesentlich komfortabler.

    Ich habe Respekt vor der enormen Leidensfähigkeit der ehemaligen DDR-Bürger - für sie war der Trabi Symbol für und Zuflucht in "etwas Freiheit" durch Mobilität. Andererseits wurde es echt Zeit, dass sie auf vernünftiges Material zugreifen konnten... auch wenn es damals erstmal nur für Ascona, Jetta, Escort, Corolla, Civic oder Lancer etc. reichte. Auch für sie war die Auto-Welt ab November 89 endlich bunter. Sie machten locker einen Sprung um 50 Jahre NACH VORN... und das war auch gut so!

    Gruß
    Andreas

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Anonym25.11.14

      Hey Andreas,

      ich kann mir gut vorstellen, dass es für dich das leisteste Auto der Welt war ;-).

      Mein "fast-Auto-soll-aber-noch-eins-werden" wird wohl nicht viel komfortabler sein, die Konstruktion ist ja schon 70 Jahre alt. Aber da bin ich einfach mal gespannt, wurde ja unter ganz anderen Bedingungen entwickelt.

      Jeden Morgen, wenn ich zur Schule fahre, kommt mir ein türkisfarbener Trabbi entgegen. Bei jedem Wetter, egal ob es schneit, gefroren hat oder es brütend heiß draußen ist. Das scheint wohl das einzige Auto vom Besitzer zu sein.

      Schöne Grüße
      Lars

      Löschen
  3. Anonym17.11.19

    Nun habe ich im Rückblick noch das Glück gehabt, die DDR in den Herbstferien 1988 erleben zu dürfen als Zwölfjähriger. Die Ereignisse ein Jahr später waren da noch undenkbar, und zugleich war das, was ich dort sah, "Ausland", denn es hatte mit meiner Lebensrealität in so vielen Details nichts zu tun. Erst nach Tagen erschloss sich mich mir, warum in den Strassenbahnen, und in manchen Fenstern, "bunte" (rosa, gelb, blau) Neonröhren hingen. In meinem Weltbild war es undenkbar, dass es der schlichte Mangel war (Und warum dann rosa? Dann doch lieber keine, oder?).

    Vor dem grossen Kaufhaus liessen die Mütter ihre Kinderwagen stehen - mitsamt dem schlafenden Nachwuchs drin. Im Kaufhaus dann die nächste Überraschung: Als Westler gewohnt, Werbetafeln an der Decke zu ignorieren, hatten wir es gewagt die Verkaufsfläche zu betreten. Gestattet war dies nur mit "Körbchen". Die anderen "Normalkunden" warteten natürlich an der Rolltreppe, bis sie ein "Körbchen" bekamen. Dass es für die Kunden an einem Wochentagsvormittag zu wenige "Körbchen" gab, muss ich wohl nicht weiter erwähnen.
    Immerhin: Schaufenster waren dekoriert. Aber: In einem stand als Dekoration eine krumme Kerze. Auch hier dauerte es wieder Tage, bis ich begriff, dass die Kerze wohl unter der Sonneneinstrahlung der Schwerkraft nachgegeben hatte, irgendwann vor dem Oktober, als wir dort waren. Aber auch in den zwei Wochen des Aufenthalts dort fühlte sich niemand im Geschäft dafür verantwortlich, die Auslage wieder in Ordnung zu bringen. Für mich war es ein Sinnbild, für das, was ich dort sehen u erleben dürfte (aufgegebene Strassenzüge in der Innenstadt, usw)

    Und so war denn auch die Radiomeldung gut ein Jahr später abends um 23 Uhr, dass die Mauer auf sei für mich nichts, worüber ich mich freuen konnte. Für mich war die DDR so fremd wie Österreich oder die Schweiz gewesen. Niemand wäre auf die Idee gekommen, sich trotz der gemeinsamen Sprache mit ihnen zu "vereinigen".
    Ich wage mal die Hypothese, dass die Wende 10 Jahre später, unter meiner Generation, ganz anders verlaufen wäre. Das Gefühl, dass da was zusammen wachsen "muss", gab es bei uns jedenfalls nicht mehr.
    Aber auch mich hat zusammen mit dem Rest des Landes "der Mantel der Geschichte" (H. Kohl) damals erfasst, und ich bin ganz erstaunt, dass wir mittlerweile wieder eine Menschengeneration weiter sind. Noch dazu, die historischen Protagonisten der Politik von damals, welche im Erleben allgegenwärtig u omnipräsent Zeit ihres Lebens waren, sind mittlerweile verstorben.
    Und so geht denn - alles immer weiter.

    VG Nils

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Hallo Nils,

      ja - diese "Gegenwartsverschiebung" habe ich in der DDR auch wahrgenommen. Im Nachhinein ist das Fazit dieser Beobachtungen jedoch recht klar: in der DDR war die Zeit schlicht und einfach dreißig Jahre lang stehen geblieben... man fühlte sich also komplett zurückversetzt in eine Zeit, in der man selbst noch sehr klein (ich war 1989 28 Jahre alt) oder noch nicht mal geboren war.

      Bei den Menschen ist es, wie Du schon ganz richtig sagtest, eine ganze Generation, die ihr Leben für dieses seltsame Staatskonstrukt hergab und sich dafür teilweise menschenunwürdig verbiegen musste. Diese Prägung wird man sicher nicht so einfach wieder los. Das merkt man ja letztendlich auch dreißig Jahre später noch... das ist ja wahrscheinlich auch der Grund für die vielerorten auffällig schräge soziale Einstellung der ehemaligen "Ost-Bevölkerung".

      Leider wurde die Wende politisch missbraucht. Mit der Wiedervereinigung schmückten sich ja Politiker, die sich nicht wirklich aktiv an der jahrelangen Vorbereitung des Events beteiligten. Sie waren halt nur "zur rechten Zeit am rechten Ort" und hielten ihr Gesicht passend zum Geschehnis in die Kameras dieser Welt. Hinterher brüsteten sie sich mit dem politischen Erfolg, den ihnen der Zufall in den Schoß gelegt hatte. Dass sich Politiker mit fremden Federn schmücken, ist ja nicht neu - und auch das wird sich sicherlich nie ändern.

      Apropos "Körbchen": durch Deine kleine Geschichte mit dem großen Kaufhaus erklärt sich mir ein Vorfall, über den ich mich vor rund 15 Jahren in einem ALDI in Leipzig tierisch geärgert habe. Wie ich es auch manchmal im "Westen" mache, kaufte ich ohne Einkaufswagen ein. Einfach nur das bisschen Ware in die Hand/auf den Arm... und ab zur Kasse! Dort ranzte mich die Kassiererin derart unhöflich an, ich solle mir doch gefälligst einen Wagen genommen haben (das stand auch auf einem Schild am Eingang - für meine paar Sachen lohnte sich das aber meiner Meinung nach nicht!), dass ich ihr meinen Einkauf auf dem Band liegen ließ und den Laden schnurstracks wutentbrannt verließ. Damals verstand ich die Forderung nach einem Einkaufswagen als Schikane. Jetzt kenne ich - dank Deiner Story - die Historie dahinter. Danke dafür!

      Gruß

      Löschen
  4. Anonym18.11.19

    Hallo Andreas,

    Gleich vorweg, es sind 30 Jahre alte Eindrücke und Erlebnisse. Viel Zeit ist vergangen. Aber der Vollständigkeit möchte ich einige Eindrücke hier noch schriftlich festhalten.
    Im Nachhinein bin ich meinen Eltern sehr dankbar für diese Reise, denn ich bin einer wenigen meines Jahrgangs, die das Leben auf der "anderen Seite" selbst erleben durften.
    Etwa der Gang in dem Supermarkt, in dem im Grunde nur leere Regalflächen zu sehen waren, nur gefüllt mit den absoluten Basics wie etwa Brot. Unsere Gastgeberin war sehr geübt im Organisieren, selbst bei so Grundlegendem wie Lebensmitteln.
    Sonntags wollte Sie uns etwas bieten und wir fuhren aufs Land, um eine Tropfsteinhöhle zu besichtigen. Anschliessend ging es in ein privat geführtes Cafe in der Nähe. Es war augenscheinlich bis auf den letzten Platz belegt, so dass wir uns bereits wieder daran machten, es zu verlassen. Für die Gastgeberin war dies jedoch kein Grund zu gehen, üblich war es sich um einen Tisch um die speisenden Gäste zu platzieren, bis diese fertig waren.
    Man stelle sich das heute vor, es war für mein Empfinden absurd und wir haben auch dankend abgelehnt.
    Wie du schon sagst, es war ein Lebendexperiment an einer ganzen Generation, welches den Menschen unglaubliches Anpassungsverhalten abverlangte. Hinzu kam noch spürbar, dass auch in der gesellschaftlichen Entwicklung im Vergleich zum Westen aus unserer Sicht sich Verhalten konserviert hatte. Völlig fremd war uns zB. diese Art von persönlichem Tratsch und Missgunst selbst in der engsten Familie, welche dazu führten dass Eltern und Kinder demonstrativ nicht mehr miteinander redeten. Es mag nat. ein Einzelfall gewesen sein, aber es führte dazu, dass mein Vater in seiner überspitzenden Art auf der Rückfahrt nur meinte: Hoffentlich geht die Mauer nie auf.
    Wie gesagt, es liegt sehr lang zurück, und ich bin sehr froh, dass ich diesen gesellschaftlichen Kontrast selbst noch erleben durfte. Denn erst durch den Abgleich merkt man, wieviel sich zwischenzeitlich verändert hat.
    Und was die Politiker angeht: Die Sprachregelungen haben damals doch sehr gut funktioniert, denn obwohl ich mir einbilde, seit damals bereits mit offenen Augen durchs Leben zu gehen, sind die gravierenden gesellschaftlichen Auswirkungen, welche die Arbeit der Treuhand innerhalb sehr kurzer Zeit in den fünf neuen Ländern nach sich zog, an mir nahezu vorbei gegangen. Erst zwei Jahrzehnte später habe ich die fundamentalen Umwälzungen erst realisiert, und damit bin ich im Westen sicher nicht allein. Im Nachhinein ist dies ein weiteres Wunder, dass dies gesellschaftlich nach aussen so erschütterungslos ablief.

    VG Nils

    AntwortenLöschen