Samstag, 29. Oktober 2016

Nie ein Revoluzzer, nie ein Rebell

Es mag ja zunächst klingen wie die Predigt eines Pastors. Zumindest aber liest es sich wie eine Lebensbeichte.

Da schreibt mein Freund Jens Tanz in seiner Blog-Story "Erstes Auto... gestern und heute"  über den einfachen aber unbezahlbaren Luxus eines jungen Mannes Anfang der 1990er Jahre (Zitat): 

"Mir träumte von einem warmen, sandigen Boden. Staubig, mit trockenem Gras bedeckt. Es riecht nach Oleander, Pinienharz und Meer. Zikaden schnarzen in den Bäumen. Ich war wieder an der Côte d’Azur, mit Freunden und Freundinnen und meinem ersten Auto"


Er schwärmt, dass dieses Fahrzeug (ein alter Ford Taunus) für ihn Freiheit bedeutete - Freiheit, überall hinfahren zu können, wohin er wollte. Und am Ende seines Artikels bittet er (wie eigentlich immer) um die Erlebnisse, Erfahrungen und Meinungen der werten Leserschaft.

Ich habe seinen Beitrag komplett gelesen, habe auch die dazu gehörenden Fotos betrachtet. Sie zeigen junge, gut gelaunte Menschen vor oder in alten Autos, Strand, Gaskocher, Gitarre... so war das also. Ich falle in tiefe Gedanken...

Jens, mein Roland & ich
Jens ist so etwa zehn Jahre jünger als ich. Seine Story handelt aus einer Zeit, in der er etwa zwanzig Jahre alt gewesen sein mag. Ein zweifellos cooles Alter. 

Auch ich wäre ganz sicher nochmal gern zwanzig Jahre alt. Doch nicht, weil ich die damalige Zeit in so guter Erinnerungen habe, sondern weil ich die einzigartige Möglichkeit hätte, mein Leben vielleicht in andere Bahnen zu lenken. Das sagt sich so leicht - doch es war mir damals irgendwie nicht möglich, meine Zukunft selbst zu bestimmen.
Warum das so war? Dazu muss ich weit ausholen. Im Frühjahr 1981 war ich gerademal neunzehneinhalb Jahre alt. Weil ich nicht die von meinem Vater bestellte schulische Laufbahn am Gymnasium (be/)verfolgte, musste ich meinen Führerschein selbst bezahlen. An ein eigenes Auto war nicht zu denken - das hätte mich, seiner Meinung nach, auch nur vom Lernen abgehalten. Zu dieser Zeit war der Drops meiner freien Entwicklung längt gelutscht, immerhin war ich schon seit fast zwei Jahren volljährig.

Klein Andreas mit seinem Petzi
Denn in meiner ach so schönen Jugend versuchte mich mein Erzeuger zu einem erfolgreichen Menschen zu (ver)formen. Möglichst erstklassige schulische Leistungen waren demzufolge zu erbringen, dann war man der prächtige vorzeigefähige Sohn eines Diplomingenieurs. Anderenfalls verlor eben dieser seine Contenance. Oft konnte ich nicht am Schulsport teilnehmen, weil die regenbogenfarbenen Striemen auf meinem Hinterteil sonst die liebevollen väterlichen Erziehungsmaßnahmen ("...mache ich doch nur, weil ich dich lieb hab!" - WHAT????) verraten hätten. Reziprok zum Einsatz der im Keller verwendeten Besenstiele und Knüppel verschlechterte sich mein Stand in der Schule.

Da mein Erziehungsberechtigter das Problem schließlich in meiner Pubertät wähnte, musste ich sogar medizinische Maßnahmen in Form von Hormonspritzen zur Verkürzung der Pubertät über mich ergehen lassen. Auch Kinderpsychologen brachten mich nicht auf den gewünschten Weg und zur Einsicht (hört sich alles seltsam an - war aber so!).

Dem gequälten Aufstieg von der Grundschule zum Gymnasium folgte schließlich mein taumelnder Absturz zur Realschule... der martialische Einsatz meines alten Herrn endete schließlich mit viel Ach und reichlich Krach in einer Fachhochschulreife, ja sogar in sechs Semestern Studium - allerdings ohne Abschluss.

Mit Zwanzig war ich quasi ein gebrochener Psychopath. Nicht wirklich fähig zu eigenem Willen und selbst fest davon überzeugt, ein missratener Sohn zu sein. Kleingeredet, schlechtgemacht, gebetsmühlenartig zum Taugenichts erklärt. Unter diesen steten väterlichen Behauptungen war ich irgendwann selbst von meiner Minderwertigkeit überzeugt. In diesem diffusen Zustand ohne Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl gab es keinen Platz für eine typisch jugendliche Gefühlswelt mit Unbeschwertheit, Freiheit, Mobilität, Zuneigung oder gar Liebe und Freundschaft. Ich war Gefangener meiner Kindheit und Jugend.
K 70 inkognito
Dennoch konnte ich winzige Lichtblicke im Dunkel meines Daseins wahrnehmen - und ausbauen! Mit vielen Heimlichkeiten, einer ordentliche Portion Dreistheit, Gleichgültigkeit (ich würde es vielleicht heute als versteckte Erziehungsresistenz bezeichnen), etwas List, unbändiger Geduld und letztendlich auch der Volljährigkeit gelangen schließlich auch mir Fortschritte in die Eigenständigkeit.

Das alles kostete natürlich enorm viel Zeit! Zeit, in der Gleichaltrige längst aktiv an ihrem ganz persönlichen Profil schnitzten. 
Man kann also getrost behaupten, dass die väterlichen Erziehungseskapaden über weite Lebensstrecken meine Persönlichkeitsentwicklung blockierten. Unterlassen wir weitere Analysierungsversuche - mein Psychotherapeut, der mir nach meinem bisherigen, verpfuschten Lebensweg insgesamt mehrere Jahre lang hilfreich zur Seite stand, wunderte sich letztendlich, dass aus mir trotz alledem geworden ist, was aus mir geworden ist. Es hätte auch viel schlimmer kommen können. Ein milder Trost der für Optimismus Platz lässt!

Colabulli als Tür zum Leben
Mein erstes Auto kaufte ich mit dreiundzwanzig - heimlich! Zusammen mit einem zwischenzeitlich gefundenen einzigen Freund (eine Freundschaft die mein Vater natürlich sehr misstrauisch beäugte... wie sollte es auch anders sein?). Auf mich allein gestellt wäre ich finanziell nicht zu diesem Geschäft in der Lage gewesen... obwohl der Wagen (ein ausrangierter Colabulli) nur 150,- DM plus Mehrwertsteuer kostete. Schließlich musste ja auch noch reichlich hineininvestiert werden.
Ich sparte mir damals mühsam Geld durch Gartenarbeiten (Rasenmähen, Baumschnitt etc.) zusammen. Durch die Teilhaberschaft meines Freundes an diesem Projekt entstand ein Fahrzeug, dass wir gemeinsam zum Urlaub nutzten. In der anderen Zeit fuhr ich es allein - argwöhnisch betrachtet von... na wem wohl? Hatten wir ihm doch auf diese Weise tatsächlich ein Schnippchen geschlagen.

Die große Freiheit mit Ralf
Mit diesem Fahrzeug hatte ich natürlich den Geruch der großen weiten Welt erfahren - für mich ein lang ersehnter, unglaublicher Fortschritt, der fortan eine ganze Lawine an Lebensgeistern in Bewegung brachte. Endlich konnte meine Entwicklung altersgemäß voranschreiten. Oftmals überschlug ich mich förmlich (...nicht mit dem Auto sondern in der Entwicklung!). Leider immer wieder drastisch gebremst vom Familienoberhaupt ("... solange du die Füße unter unseren Tisch...!").
Meine Freude einerseits war sehr lange und stets überschattet durch das Versagen als braver, strebsamer Sohn andererseits. Die infiltrative väterliche Gehirnwäsche wirkte unglaublich lange und unglaublich tief. Wäre ich in meinem Leben nicht irgendwie aus dieser Zwangsverbundenheit heraus gekommen, würde ich wahrscheinlich heute noch "zu Hause" wohnen, hätte kein Auto, wäre nicht verheiratet, hätte natürlich keine Kinder, hätte kein eigenes Haus, würde nicht in den Urlaub fahren... und wäre mindestens Diplomingenieur... und hätte mich wahrscheinlich längst aufgehängt!

Jens' Geschichte endet mit den Worten "Das Leben kann so wundervoll einfach sein." Jeder Leser kann nun ahnen, was MIR eine solche Feststellung bedeuten mag. Viele Jahre zweifelte ich manches Mal daran, diesen Zustand je zu erleben. 

Seit über zwei Jahren halte ich inzwischen deutlichen (räumlichen und seelischen) Abstand zu meinem Vater (inzwischen über Achtzig und Witwer). Obwohl wir keine zweihundert Meter entfernt voneinander wohnen, sehe ich ihn nur noch äußerst selten. Unzählige endlose Diskussionen mit ihm haben dazu geführt, dass ich mich seinem Einfluss energisch entziehe. Er legt seine despotische Art einfach nicht ab, würde sich auch heute noch bestimmend in mein Leben einmischen. Die Fronten sind geklärt und (es blieb keine andere Möglichkeit) ich musste eine geistige Mauer zwischen uns errichten. Diese Mauer liegt hinter mir und ich merke endlich, wie wundervoll einfach das Leben tatsächlich sein kann.

Warum schrieb ich das nun alles? Um zu zeigen, wie unterschiedlich Leben sein kann. Während der Eine seine Jugend als durchaus lustvoll, erinnerungswürdig und in gewissem Maße schön empfindet, denkt der Andere eher widerwillig und mit Bauchschmerzen an seine fürchterlichste Zeit der Qual und des Überlebenskampfes - denn so darf man das getrost bezeichnen. Jeder betrachtet stets das Leben in jeder Situation aus seiner ganz persönlichen Perspektive. Ich wollte hiermit erzählen, dass zur gleichen Zeit ganz unterschiedliche Chroniken gefüllt werden. Während der Eine bereits seine Freiheit mit Freund oder Freundin im eigenen fahrbaren Untersatz zu schätzen lernt, kämpft der Andere gerademal um seine Grundrechte als Kind, Jugendlicher und Mensch.

Ich bin gewissermaßen froh, dass meine Erlebnisse anderen Menschen erspart geblieben sind - dass ihr Weg offenbar deutlich besser, schmerzloser und trotzdem zielgerichteter und erfolgreicher als meiner verlaufen ist. Schön, dass andere Menschen (zumindest im Moment der Geschichte des ersten Autos) einen gewissen idealen Verlauf ihrer Jugend erleben durften. Schön, dass sie zu dieser Zeit auf der Sonnenseite des Lebens standen.

Darauf bin ich etwas neidisch ("Neid ist die ehrlichste Form der Anerkennung!"). Für meinen Geschmack stimmte bei Jens jedenfalls das Lebens-Timing.

Ich war dagegen leider ein absoluter Spätstarter... unfähig zur Revolution - ein geknebelter Rebell. Heute bin ich nicht mehr Willens Rache, Glut oder auch Hoffnung oder Barmherzigkeit zu versprühen.

Meine Feuerwerksrakete geht erst los, als man den Rohrkrepierer irgendwo findet und in die Mülltonne entsorgen will. Fast hätte ich nicht mehr mit dem bunten Farbspektakel gerechnet.
Mein Leben hat trotz aller Stürme doch noch eine gute Wendung gefunden. Ich liebe meine Frau, meine Kinder, Enkelkinder, Stiefkinder, meine Schwestern, meine Autos, meinen Job, mein Zuhause, meine Freunde, ich liebe Sizilien und noch so viel mehr...

... und ich korrigiere gern Jens' Worte: "Das Leben IST einfach wundervoll!"

Hoffentlich kann ich das noch lange genießen.

Und vielleicht war das hier ja doch tatsächlich eine Predigt!?

2 Kommentare:

  1. Bester El,

    wieder mit einem Glas Wein in der Hand, diesmal ist es Retzina, lese ich deine Zeilen. Und ich muss mehr als ein Mal schlucken. Gar nicht so sehr, weil deine Kindheit das war, was sie war. Dafür kannst du nichts, und das kannst du heute nicht mehr ändern. Aber es beeindruckt mich, wie offen du darüber sprichst. Wie du deinen Vater, anscheinend sehr zurecht, mit dem Rücken an die Wand stellst und klar und deutlich aussprichst, was er damals für ein Verbrechen an deiner Seele und deinem Körper begangen hat. Was für eine familiäre Macht damals, was für eine absurde Ausnutzung dieser Macht. Mir dreht sich der Magen um.

    Als einer der wenigen hier im Netz kennst du noch mehr Geschichten von mir als die, die ich aufschreibe. Du weißt, dass meine Kindheit nicht rundherum fröhlich war, und du weißt auch, dass meine jüngere Vergangenheit alles andere als locker flockig gelaufen ist. Ich denke, wir alle haben unsere Zeiten, in denen es wirklich scheiße läuft. Und wir haben die, in denen es rockt. In denen das Leben lebenswert ist. Mein Respekt gilt allen denen, die daran arbeiten, dass es ihnen besser geht. Und die nicht nur jammern. DU -> gehörst definitiv dazu!

    Es ist eine gute Erfahrung, dich, deine Geschichte und Olivia kennen zu lernen. Ich bin da sehr dankbar drum. Vielleicht sieht mein junges Erwachsenendasein erinnerungswürdig aus, na klar, ich denke gern an diese Zeiten. Vor allem aber, weil ich da vieles loslassen konnte. Keine Gewalt wie bei dir, die hat es in meinem Elternhaus nie gegeben. Aber das Ausbrechen aus Konventionen, aus vorgefertigten Plänen und verbindlicher ALtersvorsorge - das tat gut. Ich bin lachend und mit wehenden Haaren in die riesigen Fehler reingelaufen, die mir als Erwachsener fast das Genick gebrochen hätten. Du hast das andersrum gemacht. Aber heute stehen wir beide hier und können sagen: Hey, das Leben IST schön.
    Weitermachen. Und bis bald.

    Jens

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    1. Salve Jens,

      über die Hälfte meines bisherigen Lebens habe ich mein Schicksal still und heimlich ertragen, meine Sorgen und Ängste in mich hinein gefressen. Wenn man es richtig nimmt, hat diese innere Verarbeitung beinahe dazu geführt, dass ich mich förmlich selbst vergiftet habe, den ganzen Scheiß selbst geglaubt und obendrein sogar selbst gelebt habe. Hätte man mich damals nach meiner Kindheit und Jugend gefragt, hätte ich behauptet sie sei glücklich - eine dreiste Lüge. Es konnte ja nicht sein, was nicht sein durfte. Eigentlich voll krank!

      Die wenigsten Menschen um mich herum kannten mich anders als so verstellt, so unecht... und niemand wusste, was wirklich dahinter steckte. Doch irgendwie wuchs der innigste Wunsch, irgendwann mal authentisch sein zu können. Doch dazu brauchte es Jahre, ja Jahrzehnte.

      Letztendlich verdanke ich einerseits meinem Psychotherapeuten den offenen und ehrlichen Umgang mit meiner Vergangenheit, andererseits den unglaublich vielen Erkenntnissen durch den Tod meiner Mutter.

      Seitdem erkenne ich Strukturen in meiner Vergangenheit. Seitdem weiß ich, was ich auf keinen Fall mehr will! Alte Einfluss-Seilschaften sind (so gut es ging) gekappt. Endlich habe ich mein Leben selbst in der Hand - und DAS fühlt sich gut an und macht das Leben schön.

      Wir lesen und sehen uns.

      Andreas

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